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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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immer größeren Verfalls, einer Verdorbenheit, die am Ende unter der Hitze der Sonne auf dem ungeschützten Kopf und zwischen den aschgrauen Pflanzen in ein entmutigtes Abwinken mündete, in dem Hunger mit neuem Schwung entbrannte. Als sie sich bückte, um einen trockenen Zweig aufzuheben, bekam sie einen Schreck: Jemand stand unentschlossen an der Tür zum Haus. Sie fuhr herum – Arlete. Sie lachte triumphierend. Die alte Jungfer starrte sie an. Arlete!
    »Komm doch in die Sonne«, sagte sie mit einer gewissen Derbheit.
    Arlete stand an die Wand gestützt, den mageren Körper unter dem schwarzen Sonntagskleid, das frisch gewaschen war, ausgeblichen; Puder bedeckte in Flecken das graue, kraftlose Gesicht – das dünne Haar war zu feuchten Zöpfen gebunden. Und da sie nicht antwortete, die glänzenden Augen kalt auf Virgínia gerichtet, konnte sich diese nicht zurückhalten und zischte mit einer lustvollen, forschen Bewegung:
    »Du hast Angst, dass du es nicht aushältst …«
    Die andere sagte weiter nichts. Und da die Situation etwas sehr Seltsames bekommen hatte und eine neue, aufrichtige Wirklichkeit an die Oberfläche getreten war, fügte Virgínia etwas erschrocken hinzu:
    »Eine Hitze ist das hier draußen …«
    »Ja«, antwortete schließlich Arlete. »Die Pflanzen sind verbrannt.«
    »Hör zu«, flüsterte Virgínia langsam und blass, »ich gehe fort von hier, ich habe Hunger, weißt du, was das heißt. Ich habe euch jeden Monat mein Haushaltsgeld gegeben und sehe schon wer weiß wie lange kein Essen mehr. Das ist nicht recht – fast mein ganzes Geld für nichts als diesen miesen Speicher … Und dazu noch die verdammte Näherei.«
    Arlete schien nicht überrascht.
    »Du bist gekommen, weil du wolltest«, sagte sie schlicht.
    »Und ich gehe auch fort, weil ich will«, schrie Virgínia, lief die brüchigen Zementstufen hinauf, ging durch die Tür und spürte am Arm für einen Moment den harten Körper Arletes. Als sie zitternd in die Mitte des Wohnzimmers kam, kurz vor der Treppe, die sie in ihr Zimmer führen würde, hörte sie Arlete wimmern. Sie drehte sich um und sah sie, wie sie sich mit beiden Händen ihre lächerlich vorstehende Brust hielt, als wäre sie verletzt.
    »Was ist denn los«, fragte Virgínia in plötzlichem Schrecken.
    Die andere maß sie mit aufmerksamem, eindringlichem Blick.
    »Du hast mich geschlagen … Du weißt, dass ich schwach bin, und hast mich geschlagen.«
    Verblüfft sah Virgínia sie an. Niemand, der die beiden gesehen hätte, wäre darauf gekommen, dass zwischen ihnen ein wildes Verständnis bestand. Der Moment füllte ihren Körper mit der sicheren, benommenen Regung, ihr wirklich einen Stoß zu verpassen, und sie schloss die Augen und hielt an sich. Noch eine Sekunde, und sie würde es tun. Die Lippen weiß und glühend, unterdrückte sie doch den Impuls, denn ihr wurde klar: Daniel hätte sie nicht verstanden, und sie hätte es nicht erklären können.
    »Du hast mich geschlagen«, wiederholte die andere in bitterem Triumph.
    »Du … du … du alte Vettel!«, rief sie ihr zu, »du verlogene alte Vettel!« Und von diesem Ausbruch wurde ihr ganz schwach vor Angst und Scham, kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, sie spürte die Rohheit des Ausdrucks, der von der Granja stammte, vom Land, und nicht in die Stadt gehörte, sie starrte die Alte an, ja, die Alte, der sie die Beleidigung hingeworfen hatte und die wartend dastand, den Mund offen vor Überraschung, die gelben Zähne entblößt … Sie biss sich auf die Lippen und stürmte die Treppe hoch, und das Haus bebte mit ihr. In der Nacht schlief sie nicht, packte ihre Sachen, unterdrückte dabei ein Gefühl von Entsetzen und Angst, das auf ihre Brust zielte und drohte, sie aus dem Verstehen zu werfen. Kaum war der Tag angebrochen, ging sie schläfrig die Treppe hinunter, durchquerte das vage, unwirkliche Licht des Wohnzimmers, das gerade wach wurde, öffnete die Tür, der frische Morgenwind kam ihr entgegen; mit eiligen Schritten hielt sie Ausschau nach einem Taxi, die Augen müde – ihr war, als hätte sie gelogen und würde jetzt endlich erwachen, sich befreien von ihren Gefühlen. Als sie zurückkam, war niemand im Wohnzimmer; doch sie spürte, dass sich oben im Speicher jemand an ihren Sachen zu schaffen gemacht hatte und dass sie von ihrem Weggang wussten. Sie war erleichtert, sich nicht verabschieden zu müssen. Sie ging die Treppe hinunter, das Gepäck hinter sich her schleifend, erreichte die

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