Der Lüster - Roman
schämen«; wie wusste er nur so viel von der Wahrheit? Selbst ohne Grund begann schon die Annäherung an Verwandte mit dem konfusen Gefühl von Scham und Widerwillen. Cousine Henriqueta öffnete die Tür und schien zu wanken vor der Helligkeit.
»Ja?«, fragte sie, das Gesicht vorgestreckt in Erwartung und vagem Kummer, »ja?«
»Ich …«, versuchte Virgínia hervorzubringen.
»Ja?« Doch auf einmal kam Licht in die Augen der Alten, und mit einem kleinen, unterdrückten Ausruf trat sie einen Schritt zurück: »Komm rein, komm rein, deine Koffer! Ach, der Fahrer muss noch bezahlt werden, komm doch rein, Virgínia, komm rein, deine Koffer, nicht wahr? Arlete …«, sagte sie ins dunkle, stille Innere des Hauses gewandt, »Arlete, unsere Cousine ist schon da …«
Ihre Stimme hatte sich unmerklich verändert, und dabei wurde Virgínia die Beziehung zwischen den beiden alten Jungfern klar. Von drinnen kam keine Antwort, und die beiden Frauen standen einen Moment lang an der Tür und warteten. Henriqueta nickte unvermittelt, als hätte sie irgendeine Erwiderung vernommen.
»Komm rein, meine Liebe«, sagte sie mit größerer Entschlossenheit. Doch als Virgínia einen Schritt nach vorne machte, schien ihr zu ihrem Schrecken etwas einzufallen, sie hielt inne, streckte dann den Arm aus, um sie mit unerwarteter Eile und Kraft zurückzuhalten, murmelte etwas, die Augen mühsam zusammenkneifend und in tastender Wiederholung: »Du musst noch das Taxi bezahlen, musst noch das Taxi … auch für die Koffer … Dafür musst du aufkommen …«
»Ja …«, stammelte Virgínia.
Henriqueta war groß, rosig und langsam. Ihr Gesicht mit seiner glatten, sehr seidigen Haut war von dicken, strahlenden Sommersprossen befleckt; der Hals ging kurvenförmig in den Körper über wie bei einer Puppe aus Steingut; sie war kahl und verwendete eine abgewetzte, an einem Band befestigte Perücke; sie trug einen Rock aus braunem, nunmehr fast schwarzem grobem Stoff, der ihr bis zu den geschwollenen, sommersprossigen Füßen reichte. Ihre Bewegungen waren langsam, zögerlich, als würden ihre Gedanken ständig von neuen Einfällen unterbrochen und sie würde davon stumm und konfus – aber auf ihrem Gesicht standen Überraschung und Güte. Die beiden traten in das langgestreckte, mit Dielen ausgelegte Empfangszimmer. Fast im Dunkeln, an einem großen ovalen Tisch saß Arlete. Sie hob den Kopf von ihrer Näharbeit und betrachtete Virgínia mit einer Aufmerksamkeit, die sich mühte, anwesend zu bleiben.
»Guten Tag, Virgínia«, sagte sie schließlich.
Arlete war klein, ihr Gesicht spitz zulaufend, eine wachsame, zerstreute Nadel. Das Rückgrat war zerbrochen, die Brust stach unter den müden, kränklichen Augen hervor. Sie machte einen schwachen und bissigen Eindruck, sie nähte Kinderkleider. Virgínia schleppte ihre Koffer die alte Treppe hoch bis in den moderigen Speicher. Sie blieb für einen Moment stehen. Der Anblick erinnerte an Staub, der irgendwann aufgeschüttelt wurde und sich langsam wieder gesetzt hat. Durch ein einziges verglastes Fenster, das sich nicht öffnen ließ, drangen graue, taube Helligkeiten in den Raum, ohne Schatten. Sie legte sich eine Weile auf das harte Bett, atmete den undefinierbaren Geruch nach Alter, der sie eingehüllt hatte, seit sie in den kleinen Garten getreten war, noch bevor sie an der Tür geklingelt hatte. Ihre Augen waren glühend und müde, und sie spürte einen unabänderlichen, ruhigen Schmerz in der Brust, als hätte sie ihr eigenes Herz verschluckt und könnte es mit Mühe ertragen – sie drückte die Finger gegen die Augen, die sich zu öffnen drängten, fest und abwesend, und es gelang ihr, sie zu beherrschen, sie erforschte die kleine Dunkelheit, die sie sich erobert hatte, und als verbände sie sich für einige Momente mit sich selbst, die sie so verschwunden war, mit der abgeschiedenen, aufmerksamen Stille, seufzte sie schließlich und begann langsam, mit einem verletzten und nachdenklichen Blick ringsum, das Zusammenleben mit den Cousinen.
Das Haus war so alt, dass der vorherige Bewohner ausgezogen war, weil er Bedenken hatte, es könnte einstürzen. Unter Virgínias Speicher, der das Gebäude zu einem Dreieck abschloss, befand sich das Zimmer, in dem die Cousinen ihr Nähatelier eingerichtet hatten. Dieser finstere und verstaubte Raum wirkte noch verfallener als der Rest des Hauses. Karges Licht fiel durch ein Sprossenfenster fast unter der Decke. Da die Dielenbretter im
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