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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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gewesen. Kurz davor hatte sie versucht zu scherzen und ihn gebeten, ihr kurz die Brille zu borgen; mittendrin, hatte sie da gedacht und ihn schnell nicht angesehen, mittendrin hat er Angst, dass ich ihm die Brille kaputt mache. Und das hatte ihr eine gewisse Resignation in Bezug auf alles andere eingeflößt. – Mit wem also könnte sie noch Umgang pflegen? Mit wem, wenn nicht dem Hausmeister. Sie blieb am Haupteingang des Gebäudes stehen, um sich ein wenig zu unterhalten, an einer breiten, von wenigen Bäumen bestandenen Straße, wo die große Treppe nach oben führte. Dann bog sie um die Ecke, ging einige Schritte in eine enge, geschwätzige Seitengasse, schloss ihre eigene Tür auf, mit ihrer eigenen, fast senkrechten Treppe, die zu dem Zimmer führte, dem kleinen Wohnzimmer, dem Bad und der winzigen Küche. Sie verharrte am Fenster und sah auf die schlecht asphaltierte, lange Straße hinaus, auf einen harten Baum mit ausladender Krone, der im Wind wogte; sie konnte die Gerippe der Neubauten sehen, die an der Ecke nach oben strebten. Der Hausmeister war ein dünner Mann mit dunklem Teint, verheiratet und Vater zweier Kinder. Er erzählte ihr, wie er zu der Anstellung gekommen war. Der Besitzer fand, auch in einem armen Gebäude müssten die guten Sitten gewahrt werden. Tatsächlich fragten die Familien: Wohnen hier auch anständige Leute? Ebendeshalb, sagte er immer wieder schüchtern-entschuldigend, habe er Virgínia gleich zu Beginn darauf hingewiesen – wie er es bei allen Hausbewohnern tue, bei allen Hausbewohnern –, dass es untersagt sei, Besucher des anderen Geschlechts in die Wohnung zu bringen, abgesehen von Geschwistern und Eltern, versteht sich. Er trug den Gürtel niedrig und locker, hatte kleine, eng zusammenstehende Augen. Er erzählte ihr von seinem Alltag, von einem Kinobesuch, von einer kleinen Garage, die er daheim habe und als »Büro« benutze. Nur sonntags blieb er zu Hause, da nahm ein kurzatmiger alter Mann seinen Posten ein, der es immer eilig hatte, kein unangenehmer Mensch, aber aus irgendeinem Grund wollte er mit niemandem näher zu tun haben. Miguel und Virgínia mochten einander; da die Abende lang waren, kam er manchmal auf eine Tasse Kaffee zu ihr nach oben. Sie richtete das kleine Wohnzimmer her, so freudig wie in einem ernsthaften Spiel, einmal kaufte sie sogar ein paar Blumen. Er nahm dann Platz, und während sie in der Küche Kaffee kochte, sprachen die beiden lauter, ohne einander sehen zu können, hörten zufrieden und aufmerksam die eigene Stimme. Sie trat mit dem Tablett ins Zimmer, die beiden rückten die Stühle an den Tisch und tranken den starken frischen Kaffee mit besorgtem Genuss, wechselten anerkennende Blicke. Als der Winter kam und mit ihm die Regenfälle, war es gut, spätabends in der warmen Wohnung zu sein, mit einem jungen Mann, der dasaß und Kaffee trank. Plötzlich fragte sie erschrocken:
    »Sie versäumen hier doch hoffentlich nicht Ihre Pflicht?«
    »Nein«, versicherte er. »Ich habe mich nur im Gebäude aufzuhalten. Und wer sollte um diese Uhrzeit noch etwas wissen wollen …«
    »Aber die Tür unten …«
    »Nein, unten ist schon abgesperrt. Es kommen nur noch Bewohner ins Haus, und die haben einen Schlüssel, damit sie das Gebäude betreten und verlassen können.«
    Sie seufzte. Sie erzählte ihm ein wenig von Daniel, von Granja Quieta, von Leuten wie Vicente, die sie kaum kannte.
    »Ob Ihr Bruder sich wohl gut mit der Frau versteht«, sagte er zweifelnd, ganz ernst und ohne beleidigende Absicht. »Diese übereilten Hochzeiten. Die Ehe ist kein Kinderspiel – viele glauben das ja, aber es stimmt nicht.«
    Er ging regelmäßig zum Gottesdienst in eine protestantische Gemeinde; da er eitel war und aus einfachen Verhältnissen kam, suchte er danach den Pastor auf, stellte ihm nutzlose Fragen und hängte sich mit stolzer Gemessenheit an ihn. Der Pastor empfahl ihm, jeden Abend ein kleines Stück aus der Bibel zu lesen und zu meditieren. Gefüllt mit einer Freude ohne Lächeln, kaufte er sich eine kleine gebrauchte Bibel, nahm sie mit in sein Hausmeisterkabuff. Bei sich zu Hause las er nicht, es gelang ihm nicht, sich dort für dieselben Dinge zu interessieren, und er war ehrlich bereit, mit allen über diese frommen Angelegenheiten zu lachen. Das abgeschottete Leben auf dem Hocker in seinem Kabuff, die Arme ohne Bewegung versetzten ihn bald in eine gereizte, glühende Stimmung. Noch nie hatte er solche Lust verspürt, Urteile zu fällen, nie

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