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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Virgínia betrachtete ihn weiter. Der Wasserkessel. Der Wasserkessel. Da war er und strahlte blind. Um sich aus der stummen Verblüffung zu reißen, in die sie abgeglitten war, einen der tiefen Meditationszustände, in die sie manchmal fiel, gab sie sich einen brutalen Ruck: Na, dann sag, sag. Ihr war, als müsste sie sich jetzt vor den Wasserkessel stellen und sein Rätsel lösen. Sie zwang sich, hinzuschauen, tief, doch entweder verlor sich ihr Blick wie in einer Benommenheit, oder sie konnte nichts anderes sehen als einen Wasserkessel, einen Wasserkessel, blind und glänzend. Durch eine der zahlreichen fensterlosen Wände drang das Schlagen einer Uhr aus einer angrenzenden Wohnung ins Zimmer und wirbelte ein wenig Staub auf – ja, ja, dachte sie in einem plötzlichen Strudel aus Freude, Erleichterung und angespannter Hoffnung, während sie einen Moment lang das übergeschlagene Bein schaukeln ließ und dann still sitzen blieb. Gerne hätte sie mit den Menschen im Gebäude Umgang gepflegt, aber sie war unfähig, auf Fremde zuzugehen; und dabei glich ihr Äußeres mit jedem Tag mehr dem einer alten Jungfer; sie strahlte Anständigkeit aus, gelassenen, würdevollen Verzicht. Manchmal jedoch vergaß sie sich und redete und redete, die Augen geöffnet, den Mund voller Speichel, überrascht, trunken, leidend und mit einer gewissen Selbsteitelkeit, in der bereits heiße Demütigung lag. Sie schrieb lange Briefe an Daniel, manchmal in einem einzigen lebhaften und düsteren Schwung. Mit Wohlgefallen las sie sie noch einmal durch, bevor sie zur Post ging, und sie kamen ihr wahrlich inspiriert vor, denn obwohl sie von der Wirklichkeit erzählten, hatte sie diese nicht in den Momenten betrachtet, in denen sie sie ertrug. Sie zweifelte an der Aufrichtigkeit der Briefe, denn ihr Fühlen war nie so harmonisch gewesen wie das, was sie erzählte und was synkopierter war und fast falsch. Nein, unglücklich fühlte sie sich nicht, Unglück war etwas Feuchtes, wovon man sich mehrere Tage lang nähren konnte und dabei auf den Genuss stoßen, Unglück waren die Briefe. Mit der Zeit fand sie ein gemeines und lüsternes Gefallen daran, sie zu schreiben, und da sie sie sofort abschickte und später vergeblich versuchte, sich genau daran zu erinnern, kam sie auf den Gedanken, sie abzuschreiben, was ihre Tage füllte. Sie las sie wieder und weinte geradeso, als würde jemand anderer weinen als sie selbst. Wie unerträglich war diese Empfindung, die sie mitriss, gequält, armselig, genussvoll. Was sie zwischen den Briefen fühlte, war erstickend und staubig, es ließ sich nicht atmen, in einer Bö aus Sand und schrillem Lärm. Aber ob sie wohl aufrichtig war mit den Briefen an Daniel? Nicht lügen, nicht lügen – erfand sie –, die Sache so hinnehmen, wie sie war, trocken, rein, wagemutig – so versuchte sie sich an der Empfindung; eine Zeitlang kam ihr das Bedürfnis abhanden, liebenswürdig zu sein, wobei sie in Wirklichkeit niemanden hatte, für den sie es hätte sein können. Und wenn sie diese karge Reinheit erreichte, wusste sie nicht, dass sie ganz ernsthaft die wahren Dinge suchte, ohne etwas zu finden. Was sie von ferne zur Verzweiflung brachte, war, wie nutzlos in den meisten Fällen ihre Klarsicht blieb; was tun mit dem Umstand, dass man, wenn man hörte, wie im Garten ein Mann von einer Reise sprach, und ein Blick auf seinen Ehering fiel, dass man da mit ruhiger Hellsichtigkeit wahrnahm – die ein Irrtum sein konnte –, dass er ein Freudenhaus besucht haben musste und dass er es noch immer von Geschäften hatte und von seiner Frau? was tun damit? Sie sah nicht, was sie brauchte, sondern was sie sah. Sie wollte sich nicht dazu zwingen, herumzuspazieren, in Kinos zu gehen, aber wenn sie sich nicht dazu nötigte, zog es ihren Tag auf schwindelerregende Weise in jene unbekannte Vergangenheit, und sie verblieb seelenruhig in einer unglücklichen Stille des Handelns. – Aber hatte sie sich nicht doch einmal gezwungen auszugehen und war Vicente von neuem begegnet? Und hatte damit die vage Bekanntschaft wieder angeknüpft, vielleicht für immer. Zu der Zeit war es bereits leicht zu lieben. Lieben war nun wirklich alt, die Idee hatte sich erschöpft zu Anfang ihres Lebens in der Stadt; sie fühlte sich inzwischen erfahren und besänftigt durch die lange Meditation des Wartens. Sie erinnerte sich an die erste Nacht. Der Körper Vicentes auf ihrer Schulter wog schwer wie Erde; für ihn war leben noch nie etwas Tragisches

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