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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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hatte er Almosen so achtsam und vorsichtig gegeben. Doch mit langsamer Überraschung stellte er fest, dass er sich überhaupt nicht konzentrieren konnte und die Bibel auch lesen, die er so leicht erworben hatte. Jeden Abend setzte er sich wachsam auf seinen Sitz ohne Rückenlehne, unter die Lampe am Tresen. Er befeuchtete den Finger mit der Zunge, blätterte in dem Buch, begann. Nach kurzer Zeit verdämmerte seine Lektüre, bis er nur noch auf die Buchstaben starrte, und die Bibel führte seine Gedanken ins Nichts. Er sagte sich: Wie soll ich nach einem solchen Arbeitstag etwas lernen, mit all den Beschwerden im Kopf. Durch all die Kaffees in Virgínias Wohnung war in ihm die Idee aufgekommen, mit ihr die Bibel zu lesen. Er sprach sie darauf an, schüchtern und fast erschrocken über die Kühnheit – nicht so sehr wegen Virgínia, deren Wohnung die kleinste im ganzen Gebäude war, als wegen sich selbst, weil er noch nie mit jemandem über seine neue Bibel gesprochen hatte:
    »Verstehen Sie, die Bibel ist die größte Pflicht des Menschen. Ich sage Mensch, aber ich meine damit natürlich auch die Frauen, verstehen Sie?« Er legte eine Pause ein und musterte sie, im Zweifel darüber, ob sie seinem schwierigen Gedanken zu folgen vermochte. »Wir könnten doch jeden Abend ein bisschen lesen, das würde uns nichts kosten, also, einfach um uns zu bilden und etwas zu lernen … Was halten Sie davon?«, schloss er in größter Verlegenheit.
    Aber sie war außerstande, sofort zu antworten. Der Gedanke an diese ruhigen Abende voller Heiligkeit berührte sie so sehr, dass ihr Gesicht sich verschloss, düster und streng. Ihr eröffnete sich geradezu die Chance, ein neues Leben zu führen – übertrieben fragte sie sich, in einem Ernst, der ihr das Herz mit Genugtuung füllte: Wer weiß, was noch bevorsteht. Sie sagte beiläufig, ein wenig trocken:
    »Also, ja, können wir machen.«
    »Ja, nicht wahr?«, gab er zurück. Er erhob sich aufgeregt und bezähmte die fröhliche Unruhe, die Virgínias kühle Reaktion in ihm auslöste. Sie aber sah ihn einen diskreten und spitzen Moment lang an, und er begriff: Sie wünschte sich, dass sie sich beide verstünden innerhalb der Falschheit. Im Übrigen hatte sie noch niemals so einfach mit jemandem gelebt wie mit Miguel – sie verstand ihn besser als irgendeinen anderen Menschen zuvor. Mit Daniel war es schwierig, verzaubert, so mühselig, immer wieder neu eine Enttäuschung. Mit Miguel war es glatt und einfach, er hatte immer so sehr recht; einmal sagte er sogar zu ihr:
    »Ich glaube, im Grunde sagen alle Männer und Frauen ihr Leben lang: Ich will daran nicht denken. Und dabei denken sie, sie hätten nicht dran gedacht, was? Was meinen Sie?«, schloss er mit einem lang anhaltenden, klugen Lachen, die Augen zu Schlitzen verengt. Auch sie lachte herzlich, wiegte mehrmals zustimmend den Kopf und trank den Kaffee voller Erstaunen über seinen Scharfsinn. War es denn nicht wirklich so? Niemand konnte lange ertragen, was er fühlte. Und jetzt die Bibel …
    »Also, ja, können wir machen«, hatte sie kühl gesagt. Er sah sie an, und sie verstanden einander vorsichtig, unter Vermeiden jeglicher Klarheit.
    »Nun trinken Sie doch Ihren Kaffee, bevor er kalt wird!«, rief sie laut und nachdrücklich. Er taxierte sie, zögerte einen Moment lang hoffnungsvoll, und dann war er auf einmal erfreut und rieb sich rasch die Hände:
    »Das stimmt, das stimmt!«
    Am Abend darauf klopfte er an der Tür, sie öffnete, sah ihn mit der kleinen Bibel in der Hand; vor Wut und Scham wich sie zurück, den Körper starr, das Gesicht gleichgültig. Er sah sie nicht an. Er trat ein, blieb in der Mitte des Wohnzimmers unentschlossen stehen; sie wartete immer noch an der Tür, als rechnete sie damit, dass er wieder ginge. Mit einer inneren Anstrengung sagte sie nach einigen Augenblicken:
    »Möchten Sie den Kaffee vorher oder nachher?«
    Er antwortete hastig:
    »Ganz wie Sie wünschen …«
    Sie bereitete den Kaffee zu, während sie ihn tranken, unterhielten sie sich über ein paar Belanglosigkeiten, unter langen Momenten eines Schweigens voller Argwohn und Vorsicht. Endlich waren sie fertig, er sagte schlicht:
    »Lese ich oder Sie?«
    »Sie.«
    »Welche Stelle?«
    »Es ist jede recht.«
    »Haben Sie denn keine Vorliebe?«
    »Ich kenne mich da nicht so aus.«
    »Na gut.«
    Er schlug die Bergpredigt auf, begann mit ungeschliffener, eckiger Stimme zu lesen; zwischendurch zögerte er, füllte die Pausen mit vagem,

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