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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Fußes, dem Schwanken mit geschlossenen Augen, dem lauten Lachen, wenn sie alleine war, und dann dem Lauschen, dem ihren Körper im Bett Liegenlassen ohne die geringste Kraft, so dass ihr fast alles wehtat vor lauter Anstrengung, sich auszulöschen, dem Probieren von Kaffee ohne Zucker, dem in die Sonne Schauen, bis ihr die Tränen kamen ohne Schmerz – der Raum wurde sofort taumelig wie vor einem furchtbaren Regen –, dem Tragen von ein bisschen Fluss auf dem Handteller, ohne etwas zu vergießen, dem Anhalten unter einer Fahnenstange, um nach oben zu schauen, bis ihr vor sich selbst taumelte – auf diese Weise brachte sie sorgsam Abwechslung in ihre Art zu leben. Was sie inspirierte, war so kurz. Vage, vage hätte sie, wenn sie geboren wäre, die Hände ins Wasser getaucht hätte und gestorben wäre, ihre Kraft erschöpft, und damit wäre ihr Sich-Bewegen vollständig gewesen – das war der Eindruck ohne Gedanken.
    Eines Nachmittags wurden aus irgendeinem Grund die Palmen gefällt, und große, harte, grünliche Wedel füllten sich nervös mit Ameisen, die auf und ab liefen und dabei auf geheimnisvolle Weise eine Aufgabe erfüllten oder sich über irgendetwas amüsierten. Virgínia ging auf die Knie und sah zu. Dann hob sie den Blick und sah in der Ferne weißen Rauch aufsteigen, inmitten von schwarzem Geäst. Ein rasches Schütteln des Kaleidoskops, und es formte sich ein stillstehendes Bild, unauflöslich und ohne etwas dahinter: gerade Gräser in der Sonne, die Sonne heiß und ruhig, lauwarme Reihen von Ameisen, dicke Palmenstängel, die Erde, die in die Knie stach, das Haar, das in die Augen fiel, der Wind, der durch den Riss im Kleid drang und frisch den Arm erhellte, verhüllter Rauch, der sich in der Luft auflöste, und all das verbunden durch dieselbe geheimnisvolle Zeitspanne – einen Moment, nachdem sie den Kopf gehoben und in der Ferne den Rauch gesehen hatte, einen Moment, bevor sie den Kopf senken würde und neue Dinge empfinden. Und sie wusste auch vage, fast als dächte sie es sich aus, dass in dieser Spanne noch ein anderer Moment existierte, klein, blass und friedvoll, ohne etwas von den Dingen, die sie gerade vor sich sah, so, genauso. Und wie sie und Daniel arm und ungebunden waren. Die ganze Welt könnte über sie lachen, und sie würden nichts unternehmen, wüssten von nichts. Sie sagte sich, dass sie beide traurig seien, aber doch auch fröhlich. Manchmal kam Daniel und sprach davon, dass sie eines Tages fliehen würden – beide wussten, dass sie sich das eigentlich nicht wünschten. Sie hob den Kopf und sah auf seinen vor erwachender Vorstellungskraft bebenden Lippen einen unsauber gezogenen Bogen aus Milchkaffee, und der war bereits trocken! Sie schaute weg, auf einmal getroffen am empfindlichsten Punkt im Herzen, und stolperte hochmütig und erschrocken zwischen Abscheu, Tränen und Verachtung, perplex, lebendig, lebendig. Am Ende fiel sie in ein Mitgefühl, das tief war und unerträglich, brutal gegen sich selbst, es führte sie schließlich zu einer Art innigem Hochgefühl, das auch etwas Jämmerliches hatte. Zu der Zeit empfand sie häufig Mitgefühl, mit einer fast schon lustvollen Heftigkeit, und spürte dann im Mund einen flüchtigen Geschmack nach Blut. Insgeheim tat ihr alles leid, selbst noch die stärksten Dinge. Manchmal erschrak sie vor einem Schrei des Vaters, und ihre nach unten gerichteten, verschreckten Augen blieben an den groben Halbstiefeln hängen, wo eine graue Schnur zögerte, sich nützlich zu machen. Und plötzlich, ohne zu warten, das Fleisch ein einziger Schmerz, so als liefe auf einmal eine süße Säure durch sie hindurch, glitt sie in eine Pein des Verstehens, und ihre Augen überzogen sich mit feuchter Zärtlichkeit. Die Menschen waren derart lächerlich! Sie hätte am liebsten geweint, so freute und schämte sie sich zu leben. Das war der Eindruck. Der Vater kam im Einspänner angefahren, fragte:
    »Was ist denn hier los? Virgínia weint?«
    »Nein, die singt«, gab die Schwarze zurück. »Manchmal singt sie so Lieder, ganz laut und überhaupt nicht schön.«
    Dünn und ungewaschen, die langen Halsvenen bebend – sie sang ohne Anmut, reiner Klang, ein Schreien, ein Überschreiten der Dinge nach eigenem Ermessen. Wichtig waren die Ebenen, die ihre Stimme erreichte. Zuerst stand sie noch klein auf der Türschwelle; währenddessen stiegen die Noten auf wie Seifenblasen, glänzend und voll, und verloren sich in der klaren Luft; und währenddessen

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