Der Maedchenmaler
können?
Sie beschloss, die Schere dort aufzubewahren, wo sie ihr am nächsten war. Unter der Matratze. Sie klemmte sie am Kopfende unter eine der Schlaufen, die um die Latten geschlungen waren, dann legte sie sich hin, um sich ein bisschen auszuruhen. Die Übelkeit hatte nachgelassen und einer tiefen Erschöpfung Platz gemacht.
Die Schere unter ihrem Kopf zu wissen, war ein gutes Gefühl. Sie schloss die Augen und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
»Glaubst du wirklich, wir dürfen das tun, Ruben?«
»Man darf alles tun, was einen glücklich macht.«
»Gilt das auch für Verbrechen?«
»Es ist kein Verbrechen. Und jetzt sei still.«
Sie haben diese Sätze schon so oft gesagt. So oft. Ilka liebt Ruben. Und sie hasst ihn. Es fällt ihr schwer zu begreifen, dass diese Gefühle so nah beieinander liegen. Doch vielleicht hasst sie gar nicht ihn, sondern sich selbst. Weil sie nicht von ihm lassen kann.
Wie sehr sie seinen Körper mag. Seinen Geruch. Die Art, wie er sich bewegt. Sie kann nicht leben ohne sein Lachen und sein Flüstern. Und sie will sich immer, immer in seinen Augen spiegeln.
So nah. Und zu niemandem ein Wort.
Weil sie nämlich doch etwas Verbotenes tun.
Die Eltern wundern sich darüber, dass sie nicht auf Partys gehen, und wenn, dann zusammen. Sie fragen sich, warum es keine Freunde gibt, die das Haus mit Leben füllen. Wenn sie es wüssten, was dann?
Heimlichkeiten. Seltene, gestohlene Stunden. Gut, dass die Eltern so viele Verpflichtungen haben. Sie sind oft unterwegs. Aber nicht oft genug.
Manchmal in der Nacht kommt Ruben zu ihr geschlichen. Diese Angst. Sie dürfen nicht einschlafen, damit die Mutter sie beim Wecken nicht zusammen findet.
»Pscht.« Seine Hände trösten sie. Sein Mund flüstert Lügen und Wahrheiten. Manchmal kann Ilka das nicht unterscheiden. Sie weiß nur, sie ist süchtig danach.
»Und wenn sie es rausfinden, Rub?«
»Dann gnade ihnen Gott.«
Ilka schreckte aus dem Schlaf. Sie war schweißgebadet. Ihre Tränen tropften auf das Kopfkissen. Sie hatte das Bedürfnis zu schreien. Aber sie tat es nicht. Sie biss in ihren Handrücken, bis der Schmerz so stark war, dass er sie ganz erfüllte.
Die Adresse von Ruben Helmbach herauszufinden, war kein Problem. Bert hätte manche Arbeiten abgeben können, aber er hielt nicht viel vom Delegieren. Nur Auskünften, die er selbst eingeholt hatte, traute er hundertprozentig. Er wusste, dass er auf dem besten Weg war, ein Eigenbrötler zu werden. Die meisten seiner Kollegen hielten ihn sowieso schon dafür.
Er liebte es, sein Netz zu weben und jedem einzelnen Faden Aufmerksamkeit zu schenken. Schließlich sollte es stabil sein und im entscheidenden Moment nicht reißen.
Zurzeit bin ich nicht zu erreichen. Hinterlassen Sie mir doch eine Nachricht. Ich rufe gegebenenfalls zurück.
Gegebenenfalls. Der Mann hatte Nerven. Und er war sich seines Marktwerts bewusst. Bert hinterließ keine Nachricht. Er beschloss, für heute zusammenzupacken und Ruben Helmbach persönlich aufzusuchen. Über eine Galerie hatte er seine Adresse erfahren. Der Maler wohnte in Togstadt, zwei bis drei Stunden Fahrt Richtung Süden.
Bert meldete sich ab, schnappte sich seinen Mantel und verließ das Haus. Der Wind war stärker geworden. Er pfiff ihm um die Ohren, als er über den Parkplatz zu seinem Wagen ging. Eine Coladose rollte ihm vor die Füße. Instinktiv kickte er sie weg. Er hatte Lust, hinterherzurennen und ein bisschen zu dribbeln, doch er beherrschte sich.
Manchmal kam ihm das Leben vor wie eine einzige Reihe von Versuchen, sich zu beherrschen. Alles, was gut war am Kindsein, gewöhnte man sich mühsam und unter Schmerzen ab. Um irgendwann mit leeren Händen dazustehen und erwachsen zu sein. Bert nahm sich vor, seine Kinder davor zu schützen. Falls das überhaupt möglich war.
Als Merle nach Hause kam, war es bereits kurz nach zehn. Mike und Jette hatten mit dem Essen auf sie gewartet. Es gab nur Brot und Käse und dazu einen von Jettes Tees. Merle war stundenlang durch die Kälte gelaufen. Ein heißer, starker Tee würde sie aufwärmen und ihre Lebensgeister wecken.
»Wie wars bei euch?«, fragte sie.
»Nichts«, sagte Mike. »Und bei dir?«
»Meine Tour war ein Schuss in den Ofen.« Frustriert legte sie Ilkas Foto auf den Tisch. »Sobald man den Leuten ein Bild vor die Nase hält, verwandeln sie sich in die drei Affen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Manche knallen dir die Tür vor der Nase
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