Der Maedchenmaler
Nachtruhe für ihn opfere.«
Imke stand gerade an der Espressomaschine, als es klingelte. Jette hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und eilte schnurstracks in den Wintergarten, um ihre Großmutter lange und herzlich zu umarmen. Imke bemerkte den Unterschied. Es gab ihr einen Stich.
Sei nicht albern, dachte sie, die beiden sehen sich so selten. Doch die Eifersucht war da, und sie konnte nichts anderes tun, als sie beiseite zu schieben. Sie stellte auch ihrer Tochter einen Kaffee hin.
»Kind, du wirst immer dünner«, sagte ihre Mutter zu Jette. »Hast du immer noch so großen Kummer?«
»Alles im grünen Bereich, Großmutter.« Jette angelte sich ein Stück Bienenstich und fing an, mit gutem Appetit zu essen. »Und wie läufts bei dir? Wieder ein Bild verkauft?«
Wie geschickt sie ablenkt, dachte Imke. Und meine Mutter fällt prompt darauf herein.
»Inzwischen sind es vier. Du, die gehen weg wie warme Semmeln. Dabei ist das Malen für mich doch bloß eine Übung, um meine Finger beweglich zu halten. Schwimmen würde den gleichen Zweck erfüllen, aber ich hasse Chlorwasser, und mit diesem Altenturnen hatte ich nie was am Hut.«
Jette schenkte ihr ein hinreißendes Lächeln und leckte sich Vanillecreme aus den Mundwinkeln.
»Übrigens, Mama«, sagte sie, »diese Zeitschrift über Malerei...«
»
Handwerk und Kunst
?«
»Ja. Hast du die letzten zwei, drei Ausgaben noch?«
Augenblicklich wurde Imke misstrauisch. Ihre Tochter interessierte sich weder für Literatur noch für Malerei. Was also wollte sie mit
Handwerk und Kunst
?
Halt dich zurück, dachte sie. Frag nicht nach. Hab Vertrauen. Vielleicht hat ihre Frage überhaupt nichts mit diesem verschwundenen Mädchen zu tun. Sie ging in ihr Arbeitszimmer, fand die letzten beiden Hefte im Regal neben dem Schreibtisch und nahm sie mit hinunter.
»Danke. Lieb von dir.«
Jette verschwendete keinen Blick auf die Zeitschriften, legte sie neben ihren Teller und genehmigte sich ein zweites Stück Bienenstich. Dabei unterhielt sie sich lebhaft weiter mit ihrer Großmutter. Sie lachten miteinander, und Imke spürte entsetzt, dass sie Lust hatte, beide anzuschreien.
»Wozu brauchst du sie?«, hörte sie sich fragen, obwohl sie sich doch vorgenommen hatte, diese Frage nicht zu stellen.
Jette erwiderte ihren Blick mit Unschuldsmiene. »Ilkas Bruder ist ein bekannter Maler, und ich konnte mich daran erinnern, dass es in einer der letzten Ausgaben einen Artikel über ihn gegeben hat.« Gleichmütig hob sie die Schultern. »Ich will mal sehen, was der Mann so macht.«
Wäre es um den Bruder einer anderen Freundin gegangen, hätte diese Antwort Imke überzeugt. Aber es handelte sich um den Bruder des verschwundenen Mädchens.
»Bitte, Jette«, sagte sie, »bring dich nicht wieder in Gefahr!«
»Mama. Ich möchte bloß diesen Artikel lesen.«
Imke glaubte ihr kein Wort.
»Lass sie los«, hatte Tilo gesagt. »Sonst verlierst du sie.«
Hatte sie denn eine Wahl?
»Noch einen Kaffee?«, fragte sie.
»Gern.« Jette lächelte sie an. Ihr Kind. Eine erwachsene Frau.
Kapitel 21
Die Situation überforderte ihn. Er musste nachdenken. Zur Ruhe kommen. Bei seiner Planung hatte er nicht ein einziges Mal daran gedacht, Ilka könnte Widerstand leisten. Für ihn war ganz klar gewesen, dass ihrer Liebe nur Raum gegeben werden musste, und sie würde sich neu entfalten.
Entfalten, dachte er auf dem Weg nach unten. Wie Schmetterlingsflügel. Wie eine Blüte. So leicht.
Der Widerstand kam aus Ilkas Innerem. Ihr Körper wehrte sich.
Wie blass sie war. Sogar ihre Lippen wirkten farblos grau. Ihm wurde übel, wenn er daran dachte, dass er die Sauerei im Atelier würde beseitigen müssen.
Sie hatte behauptet, es sei das Terpentin gewesen. Mit großen Augen hatte sie ihn angeschaut und ihn gebeten, sich den Mund ausspülen zu dürfen. Er hatte ihr ein Glas gereicht und sie zum Waschbecken in der Ecke geführt.
Als er ihr gesagt hatte, er werde sie wieder nach unten bringen, hatte sie sich nicht gesträubt. Das hatte ihn verunsichert, aber er hatte die Irritation beiseite geschoben. Ilka war wie eine Katze. Wenn sie krank war, verkroch sie sich.
Er deckte das Bett auf und streckte die Hände aus, um ihr beim Ausziehen zu helfen. Sie wehrte ihn ab.
»Nicht nötig, das kann ich allein.«
Sie setzte sich auf die Bettkante, strich das Haar zurück, drehte es zu einem dicken Zopf und griff nach einer Haarspange, die auf dem Sekretär
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