Der Maedchenmaler
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie wusste nur eins: Sie wollte nicht zurück in den Keller.
»Lass uns reden«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen. »Bitte, Rub.«
Beim Klang seines Kosenamens zuckte er zusammen.
»Wir haben doch immer über alles gesprochen«, sagte Ilka. »Weißt du nicht mehr?« Vom Geruch des Terpentins wurde ihr übel. Sie legte die Hand auf den Magen. »Wir hatten nie Geheimnisse voreinander, haben uns alles anvertraut.«
Während sie das sagte, war ihr klar, dass sie nur von sich selbst sprach. Ruben war ihr schon immer vorgekommen wie ein Zauberer, der von Geheimnissen nur so umgeben war. Nie hatte sie seine Gedanken erspüren können, nie gewusst, was er als Nächstes tun würde. Und immer hatte sie Angst gehabt, sein Missfallen zu erregen. Nichts war schlimmer gewesen als die Vorstellung, nicht mehr von ihm geliebt zu werden.
Ruben drehte sich zu ihr um. Ilka erschrak, als sie sein Gesicht sah. Es war verzerrt von widerstreitenden Gefühlen.
»
Du
fragst
mich
, ob ich das nicht mehr weiß?«
Er lachte. Ebenso gut hätte er weinen oder schreien können. Er wirkte auf einmal ganz kalt.
»
Ich
weiß
alles
. Ich erinnere mich an jedes Wort, jede Berührung. Die ganzen verdammten Jahre der Trennung habe ich mein Wissen bewahrt. Ich habe jeden Tag, jede Stunde und jede Minute an dich gedacht. Und da fragst
du mich
, ob
ich
vergessen habe?«
Ilka wich entsetzt zurück. Das war Irrsinn. Er konnte doch die Zeit zwischen damals und heute nicht völlig ausgeblendet haben.
»Das erschreckt dich?« Er kam ihr nach, langsam, ließ den terpentingetränkten Lappen zu Boden fallen. »Ist es wirklich so weit von deinem Denken entfernt? Treue, Ilka. Ist das für dich nichts als ein Wort aus dem Lexikon? Muss ich dir erklären, was es bedeutet?«
Ilka fühlte das kalte Fensterglas im Rücken. Sie sah über die Schulter. Bäume und Himmel. Nichts sonst. Niemand. Ein Schrei würde höchstens die Vögel aufscheuchen. Wenn überhaupt. Sie ließ die Schultern sinken.
Ruben strich ihr übers Haar. Der Gestank des Terpentins wurde überwältigend. Sie würgte. Beugte sich zur Seite und erbrach.
Als Jette anrief, saß Imke mit ihrer Mutter beim Kaffeetrinken im Wintergarten. Das Telefon spielte eine dieser schottischen Melodien in Klingeltönen, und Imkes Mutter, die den Wert des Althergebrachten schätzte, verzog spöttisch den Mund.
»Aber sicher, Schatz«, sagte Imke. »Deine Großmutter ist auch hier. Wir freuen uns auf dich.«
»Kommt sie?«, fragte ihre Mutter.
Imke nickte. »Dem Himmel sei Dank. Normalerweise kriege ich sie nämlich kaum noch zu Gesicht.«
»Sie wird erwachsen. Das ist der Lauf der Welt.«
Imke hatte selten das Glück, ihre Mutter zu verstehen. Machte sie sich denn keine Sorgen um Jette, die sie vor ein paar Monaten beinahe verloren hätten? Oder hatte sie einfach unbegrenztes Vertrauen in sie? Zwischen Großmutter und Enkelin bestand eine tiefe Bindung, die eine Brücke über alle Missverständnisse baute. Imke konnte sich an keinen einzigen tief greifenden Konflikt zwischen den beiden erinnern.
»Ich habe den Verdacht, dass die Mädchen und Mike auf eigene Faust ermitteln. Kannst du ihr nicht mal ins Gewissen reden, Mutter?«
Zum ersten Mal spürte Imke, dass ihre Mutter alt geworden war. Das Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht und schien die Haut in Pergament zu verwandeln. Doch das allein war es nicht. Es war ein winziger Moment absoluter Hilflosigkeit, der Imke nicht entgangen war. Doch sofort hatte ihre Mutter sich wieder unter Kontrolle.
»Ich fürchte, das hat wenig Sinn. Jette hat meinen Dickschädel geerbt.« Sie lächelte. »Und sie lässt sich nicht gern Zügel anlegen.«
»heißt das, ich soll sie widerspruchslos ins Verderben rennen lassen?«
»Natürlich nicht. Man kann ihr zuhören. Und ihr raten. Vorsichtig. Mehr allerdings kaum.« Sie schaute in den Garten hinaus und schwieg eine Weile. »Kann denn dieser Tilo nicht mal seine Wunderwaffen einsetzen?«
»Hör auf, ihn
dieser Tilo
zu nennen, Mutter. Er gehört zu meinem Leben. Und zu Jettes irgendwie auch. Die beiden verstehen sich sehr gut.«
»Eben.« Ihre Mutter runzelte nachdenklich die Stirn. »Er ist doch Psychologe, nicht wahr? Finden solche Leute nicht leichter den Zugang zu anderen Menschen?«
Dieser Tilo. Solche Leute. Aber vielleicht meinte sie es ja gar nicht böse.
»Noch einen Kaffee, Mutter?«
»Unbedingt. Er ist so gut, dass ich gern meine
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