Der Maedchenmaler
Arme.
Diesmal wehrte sie sich nicht. Aber sie gab seiner Umarmung auch nicht nach. Kerzengerade saß sie da und weinte.
Ruben drückte die Lippen auf ihr Haar. Er atmete ihren Duft ein, küsste ihre Augen, ihr Kinn. Ihre Tränen schmeckten salzig. Nur einmal, ein einziges Mal hatte er sie so erlebt, so starr und untröstlich. Ein einziges Mal.
Die Eltern sind nicht zu Hause. Am Abend wird in der Bank eine Fotoausstellung eröffnet. Der Vernissage folgt ein großer Empfang. Der Vater lässt sich seine Stellung als Bankdirektor einiges kosten. Milan Jirgij, der Fotograf, ist seit gestern in der Stadt. Die Eltern sind mit ihm unterwegs, um ihn mit den Leuten bekannt zu machen, die der Vater
wichtig
nennt.
Ruben und Ilka haben den ganzen Tag für sich allein. Und den Abend. Sie lieben sich wie jedes andere Paar. Ohne Angst davor, überrascht zu werden. Danach schlafen sie ein, Arme und Beine so ineinander verschlungen, wie es nur nach der Liebe möglich ist.
Als sie wach werden, ist es Nachmittag.
»Ich will dich zeichnen«, sagt Ruben leise an Ilkas Ohr. Ihre Körper haben die Wärme des Schlafs gespeichert. Erst Nachmittag. Noch so viel Zeit.
Ilka streckt sich, seufzt vor Wohlbehagen, nickt.
»Nicht hier«, sagt Ruben. »Lass uns nach oben gehen.«
Die ersten warmen Frühlingstage haben den Speicher aufgeheizt. Ruben breitet eine Decke auf dem Boden aus und Ilka streift den Bademantel ab. Licht und Schatten spielen auf ihrer Haut, die noch weiß ist vom langen Winter. In den bunten Sonnenstrahlen sieht sie aus wie eine Heilige.
Ruben zeichnet ihren lässig hingestreckten Körper, ihr Haar, ihren Mund. Aus halb geschlossenen Augen schaut Ilka ihn an. Und er bekommt wieder Lust auf sie.
Seine Hände, die mit Kreide beschmiert sind, hinterlassen Spuren auf ihrer Haut. Seine Lippen fahren den Spuren nach. Er flüstert ihren Namen wie ein Gebet.
Die Schritte auf der Treppe hören sie nicht. Sie hören erst das Quietschen der Tür. Und dann einen erstickten Laut. Die Mutter steht da, die Hände vor den Mund gepresst, und starrt sie an.
Ilka greift nach dem Bademantel. Ruben springt auf und schlüpft in seine Unterhose. Die Mutter steht immer noch da. Unten hören sie den Vater rufen.
Mit drei, vier langen Schritten ist Ruben bei ihr, fasst sie an den Schultern.
»Bitte, Mama!«
Sie weicht vor ihm zurück, als wär er der Leibhaftige.
»Nein«, flüstert sie. »Nein. Oh nein.«
Auf einmal drängt sich der Vater an ihr vorbei. Er erfasst die Situation mit einem Blick. Zuerst wird sein Gesicht grau, dann bleich. Er stürzt sich auf Ruben und schlägt auf ihn ein.
Ruben wehrt sich nicht. Er hebt nur die Arme, um seinen Kopf zu schützen. Das alles geschieht ohne Worte. Man hört nichts als das dumpfe Klatschen der Schläge und die Geräusche, die der Vater mit seinen Schuhen macht.
»Hör auf!« Ilka wirft sich dazwischen. »Hör auf! Du schlägst ihn ja tot!«
Ihre Worte erreichen den Vater nicht. Er schlägt und schlägt. Es ist ihm gleichgültig, wen er trifft. Ilka duckt sich, die Arme über dem Kopf. Ruben versucht, sie wegzuschieben, doch sie lässt es nicht zu.
Ganz unvermittelt hört der Vater auf. Geht mit schweren Schritten zur Tür. Sie hören, wie sich von außen der Schlüssel im Schloss dreht.
Ilka untersucht Rubens Gesicht. Mit dem Ärmel ihres Bademantels tupft sie ihm das Blut von Lippen und Nase. Erst dann fängt sie an zu weinen. Ganz starr. Ganz still.
Ein einziger fester Stoß, und die einfache Tür war aufgeflogen. Der Wagen der Eltern war weder in der Garage gewesen noch vorm Haus. Ilka und Ruben hatten sich angezogen und den restlichen Tag und den Abend in wortlosem Entsetzen verbracht.
Ruben hatte sich das Hirn mit Fragen zermartert. Was würde der Vater tun? Ilka in ein Internat schicken? Ihn anzeigen? Immerhin war er bereits volljährig. Und dann? Was stand auf Inzest? Auf Unzucht mit Minderjährigen? Denn so würden sie es nennen.
Der Abend verstrich, ohne dass die Eltern zurückgekommen wären, und das war seltsam. Vielleicht war ihnen selbst nicht klar, wie sie sich verhalten sollten. Vielleicht brauchten sie Zeit zum Überlegen. Das war ein gutes Zeichen.
Ruben brachte Ilka ins Bett, denn sie war kaum noch ansprechbar. Als er ihr einen Kuss geben wollte, drehte sie sich zur Wand.
Schließlich legte auch er sich schlafen.
In der Nacht erfuhren sie vom Tod des Vaters. Und dass die Mutter unter Schock stand und auf nichts mehr reagierte.
Ilka wandte
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