Der Maedchenmaler
sie Bahnhöfe nicht mochte. In den Hallen war es stickig und laut. Die Leute hasteten hin und her. Auf schmutzigen Decken kauerten Obdachlose mit ihren Hunden. Die Tische der Imbissbuden waren klebrig und abgewetzt.
Auf den Bahnsteigen pfiff einem der Wind um die Ohren und die Ansagen mit ihrem gelangweilten Singsang überlagerten einander. Im Winter verspätete sich so gut wie jeder Zug und man stand im kranken Licht der großen Lampen, entsetzlich einsam, die Füße eiskalt, und wartete.
Ilka hatte ein Buch eingepackt. Das würde sie ablenken und vorm Nachdenken schützen. Die Fahrt nach Domberg dauerte zwei Stunden und zehn Minuten, mehr als genug Zeit zum Grübeln. Da war ein spannender Krimi genau das Richtige.
Sie hatte einen Platz in einem Großraumwagen zweiter Klasse reserviert, einen einzelnen Sitz am Fenster. Da konnte sie für sich bleiben und musste weder unfreiwillig die Unterhaltungen der Nachbarn belauschen, noch wurde sie in unerwünschte Gespräche verwickelt.
In ihrem Magen grummelte es. Das war die Aufregung. Diese Fahrten fielen ihr jedes Mal schwer. Es wäre schön gewesen, wenn Mike sie hätte begleiten können. Doch dann hätte sie ihn einweihen müssen und dazu war es noch zu früh. Sie hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde. Ob er Fragen stellen und weiterbohren würde. Und dann? Was würde er tun, wenn er die ganze Wahrheit wüsste?
Ilka hielt das Buch auf den Knien und blickte aus dem Fenster. Sie liebte den Winter. Die Felder lagen in tiefer Ruhe da. Krähen staksten in ihrem eigentümlich aufrechten Gang über die gefrorene Erde, schwarze Totenvögel, die sich vor den Schatten verneigten. Auf den Stromleitungen hatten sich Scharen von Spatzen versammelt und ließen Ilka unwillkürlich an Hitchcock denken.
Sie sah sich die Mitreisenden an. Einige lasen, andere waren in einen flachen, unruhigen Schlaf gesunken, aus dem sie alle paar Minuten erwachten. Ein alter Mann, der Ilka schräg gegenübersaß, schlief mit zurückgelegtem Kopf, den Mund weit offen, und schnarchte leise. Ein Stück weiter vorn unterhielten sich zwei Frauen. Von irgendwo hinten kamen Kinderstimmen, gedämpft, als hätte jemand den Kindern eingeschärft, leise zu sein.
Ilka gähnte. Die Heizungsluft schläferte sie ein. Sie schloss die Augen und überließ sich der Müdigkeit, hörte die Hintergrundgeräusche leiser und leiser werden.
Sie schiebt Volker in die Küche,wo ihre Mutter am Tisch sitzt, vor sich eine Tasse Tee und ein Buch. Ihre Mutter sieht verwundert auf. Ein Lächeln huscht über ihr schmales Gesicht. Ilka bringt nie einen Freund oder eine Freundin mit. Es ist das erste Mal, obwohl sie schon in die dritte Klasse geht.
»Kriegen wir Saft, Mama?«
Die Mutter lacht. »Hast du vergessen, wo der Kühlschrank ist?« Sie steht auf und gibt Volker die Hand. »Und wer bist du?«
»Ilkas Freund«, sagt Volker.
Es stimmt. Er ist ihr Freund. Sie sitzen in der Klasse nebeneinander, und Volker hat sie schon mehrmals beschützt, erst neulich noch, als dieser Hund auf dem Heimweg aus einem der Gärten geschossen kam. Da hat Volker sich einfach zwischen Ilka und den Hund gestellt und ihn verjagt.
»Schön, dass du hier bist«, sagt die Mutter. »Habt ihr Lust auf ein Stück Kuchen?«
»Was denn für einen?«, fragt Volker.
»Kirschkuchen«, sagt Ilka. »Schmeckt prima, obwohl er aus Vollkorn ist.«
So was hat Volker noch nie gegessen. Er hat auch keinen Hund. Seine Familie wohnt in einem Haus mit siebzehn Stockwerken. Da sind Haustiere verboten. Und Reden und Lachen im Treppenhaus auch. Und auf dem Rasen ums Haus herum darf man nicht spielen. Dazu gibt es extra einen Spielplatz, ein Stück weiter weg.
Ilka war ab und zu mit Volker da. Es war ganz schön. Man musste nur aufpassen, dass man nicht in die Hundekacke trat. Und keinen Streit mit den anderen Kindern bekam. Die geben einem sofort was auf die Mütze, sagt Volker.
Volker nickt und die Mutter holt den Kuchen aus der Vorratskammer. Eine Vorratskammer haben sie bei Volker zu Hause auch nicht. Das sieht Ilka seinen erstaunten Augen an. Volker hat nicht mal ein eigenes Zimmer. Er teilt es mit seinen beiden Brüdern.
Er stopft den Kuchen nur so in sich rein. Und schaut sich dabei in der großen Küche um. Ilka auch. Wahrscheinlich sind ihre Eltern reich. Sie hat das nie bemerkt.
Ob Volker ihr dieses Haus verübeln wird? Den riesigen Garten mit dem Pavillon? Wie wird er auf das Wäldchen reagieren, den Teich und die Enten? Wird er
Weitere Kostenlose Bücher