Der Maedchenmaler
Staffelei wieder zu.
Judith brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, was er malte. Das Mädchen, was sonst? Wunderschön und geheimnisvoll, mal in sich gekehrt, mal ausgelassen, mal kindlich, sehr jung, mal sinnlich und verführerisch. Und dann gab es Bilder, die sie traurig zeigten, mit einem Ausdruck in den Augen, der einen frösteln ließ.
An manchen Tagen hatte Ruben sie verzerrt und entstellt, die Gesichtszüge verschoben, ein Auge auf die Stirn gesetzt, die Lippen auf die Wange, halb Mensch, halb Ungeheuer aus ihr gemacht. Das waren Tage, an denen er krank war vor Unruhe, an denen Judith ihn nicht ansprechen durfte, an denen sie aneinander vorbeiliefen wie Fremde.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war Judith eifersüchtig gewesen. Inzwischen hasste sie das Mädchen mit den großen, verträumten Augen. Wie sollte sie gegen eine Rivalin kämpfen, die körperlos war, die nur auf Rubens Bildern Gestalt annahm? Was hatte sie ihr entgegenzusetzen? Nichts.
Sie verließ das Atelier und zog leise die Tür hinter sich zu. Ruben war ausgehungert und sie würde ihm etwas zu essen machen. Für ihn zu sorgen, war ihre Möglichkeit, ihm nah zu sein. Eine bescheidene Nähe, ein winzig kleines Glück, aber mehr würde sie im Augenblick nicht bekommen.
Auf dem Weg durch den Garten schaute sie sich noch einmal um. Ruben stand an der Staffelei, leicht nach vorn gebeugt. Wie vorhin. Es war, als hätte es ihre kurze Begegnung überhaupt nicht gegeben.
Endlich wieder allein. Jedes Wort war jetzt wie ein Schlag, jeder Blick zu viel. Er mochte Judith, aber in solchen Momenten war selbst ihre Gegenwart schwer zu ertragen. Er malte in einem atemlosen Tempo. Seine Finger schienen sich unabhängig von seinen Gedanken zu bewegen. Als wüssten sie, welche Linie sie zeichnen sollten. Blindlings fanden sie sich zurecht, tupften Lichtflecken, ließen Schatten entstehen.
Ilka sah ihn an. Ruben betrachtete ihr Haar, das beinah zu üppig war für ihr schmales Gesicht. Er hatte Lust, mit beiden Händen hineinzugreifen. Warf Palette und Pinsel auf den Tisch. Streckte die Hände aus. Und ließ sie hilflos in der Luft.
Er hörte ein Stöhnen und bemerkte, dass es aus seinem eigenen Mund kam. Es klang qualvoll und so verzweifelt, dass er erschrak. Seine Hände verharrten immer noch, wie losgelöst von seinem Körper, in der Luft. Da war kein Haar, das sie berühren konnten. Da war nur nasse Leinwand, sonst nichts.
Auch der Schrei, den Ruben hörte, musste aus seinem Innern kommen, denn außer ihm war ja niemand hier. Er fühlte ihn nicht, registrierte ihn nur. Sein Hals tat weh vor Traurigkeit. Er griff nach der Leinwand, hob sie hoch und schleuderte sie gegen das Fenster. Sie prallte ab, schlug auf dem Tisch auf, warf die Gläser mit dem Farbpulver um und fiel polternd zu Boden.
Dann war Ruhe. Eine Stille, so intensiv, dass sie Ruben in den Ohren rauschte. Am Fenster ein farbiger Streifen, mit voller Wucht von oben nach unten über das schwarze Glas gezogen.
Ruben stand keuchend da. Der Ausbruch hatte nichts an seiner Verzweiflung geändert, hatte ihn bloß Kraft gekostet. Er hörte Judiths Stimme, die ihn zum Essen rief, ließ alles, wie es war, und stolperte in die Dunkelheit hinaus. Die Kälte tat ihm gut und brachte ihn wieder zur Besinnung. Es war Zeit. Er konnte nicht mehr lange warten.
Kapitel 11
Ich konnte das, was Mike mir anvertraut hatte, nicht aus meinem Gedächtnis radieren, ich konnte es nicht mal für mich behalten. Merle und ich hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. Wie gefährlich es sein konnte, gegen diese Regel zu verstoßen, hatten wir schmerzlich erfahren.
Meine Mutter hatte sich von ihrer Lesereise zurückgemeldet und selbst bei uns eingeladen. Merle hatte zur Feier des Tages einen Kuchen gebacken. Sie stellte ihn auf den Küchentisch und betrachtete ihn wohlwollend.
»Hut ab!«, sagte sie. »Ich hätte nie gedacht, dass sie es einen ganzen Tag aushält, ohne ihr Küken in die Arme zu schließen.«
Ihre Ironie war nicht so beißend wie sonst. Merle mochte meine Mutter. Sie fand sie zwar hin und wieder ein bisschen anstrengend, aber auch großherzig und tolerant. Noch lieber war ihr meine Großmutter, was auf Gegenseitigkeit beruhte, doch die beiden bekamen sich nur selten zu Gesicht.
Während wir auf meine Mutter warteten, erzählte ich ihr von dem Gespräch mit Mike. Sie pulte eine Rosine aus dem Kuchen und knabberte daran. Ihre gerunzelte Stirn zeigte mir, dass sie
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