Der Maedchenmaler
Ansichtskarten. Die eine zeigte ein einfaches kleines Haus in einem Lavendelfeld. Auf der anderen war ein Meer von Sonnenblumen zu sehen. Bert rührte die Karten nicht an. Vielleicht würde er das später tun. Noch sah er keine Notwendigkeit, zu weit in die Intimsphäre des Mädchens einzudringen.
Kreativ
, notierte er.
Schönheitssinn
.
Auf ihrem Schreibtisch dieselbe Ordnung wie im ganzen Zimmer. Ein Laptop. Ein Drucker. Eine Tischleuchte. Ein Becher aus Ton, in dem Ilka ihre Stifte aufbewahrte. Ein Stapel Briefe, beschwert mit einem großen Bergkristall.
Sachlich?
, notierte Bert.
Oder bloß beherrscht?
Eine Kommode, ein Schrank, vor einem roten Sofa ein kleiner Tisch. Damit war das Zimmer voll. Auf der Kommode stand ein dreiteiliger Spiegel mit goldenem Rahmen, der Weite vortäuschte. Davor eine eckige, mit Wasser und Steinen gefüllte Glasvase inmitten ihrer Spiegelbilder. Über den Tisch lagen Bücher verstreut, das einzige Anzeichen von Unordnung, falls man das überhaupt so nennen konnte.
Harmonie
, notierte Bert.
Bücher
.
Hauptsächlich Krimis, stellte er bei einem Blick in das Regal fest. Er fand mehrere Romane von Imke Thalheim, was sein Herz schneller schlagen ließ. Aber Ilka interessierte sich auch für Psychologie. Neben einem Standardnachschlagewerk fand Bert einige wissenschaftliche Abhandlungen und mehrere populärwissenschaftliche Arbeiten. In einem der Bücher ging es um Schizophrenie und es war auf einem hohen Niveau geschrieben. Beides irritierte ihn. Wieso interessierte sich ein achtzehnjähriges Mädchen für psychologische Zusammenhänge, und wie weit musste sie ihren Altersgenossen voraus sein, wenn sie sich an so schwierige Fachliteratur herantraute?
Interesse an Psychologie
, notierte er.
Intelligent. Bezug zu Schizophrenie?
Tatsächlich besaß Ilka mehrere Bücher zu diesem Thema. Manche waren mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. Hier und da entdeckte Bert ein Ausrufezeichen.
»Woher kommt die Faszination Ihrer Nichte für Psychologie?«, fragte er. »Das ist sehr ungewöhnlich.«
Marei Täschner hob die Schultern. »Von ihren traumatischen Erlebnissen, nehme ich an. Vielleicht sucht sie Antworten in diesen Büchern.«
»Und warum befasst sie sich mit Schizophrenie?«
Marei Täschner sah ihn mit einem Ausdruck an, den er nicht deuten konnte. »Ich denke oft über die Reaktion meiner Schwester auf den Tod ihres Mannes nach. Auch Ilkas Umgang mit dem Unfall und seinen Folgen ist irgendwie ¦ zu extrem.«
»Sie glauben, dass Ihre Familie anfällig sein könnte für ¦ psychische Störungen?« Bert hatte in den vielen Jahren bei der Polizei gelernt, sich vorsichtig auszudrücken. Und behutsam Pausen zu setzen.
Marei Täschner knetete ihre Finger. Bert erkannte, dass sie sich einem Thema genähert hatten, das tiefe Ängste in ihr berührte. Sie nickte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie blinzelte, um nicht zu weinen. Und dann liefen ihr die Tränen doch über die Wangen. Sie wischte sie mit den Fingern weg.
Bert ahnte, was sie durchmachte. Er spürte, dass sie sich mit Vorwürfen quälte. Dass sie sich an all die Gelegenheiten erinnerte, bei denen sie versäumt hatte, Fragen zu stellen, nachzubohren, hartnäckig zu sein.
»Man lässt die Kinder laufen«, sagte sie da auch schon, »und auf einmal sind sie so weit weg, dass man sie nicht mehr erreicht.«
Ihre Worte trafen ihn an einer empfindlichen Stelle. Er hatte oft das Gefühl, als würden ihm seine Kinder unmerklich entgleiten. Manchmal hatte er Angst, eines Abends an ihrem Bett zu stehen und sie nicht mehr zu erkennen.
Er reichte Marei Täschner ein Papiertaschentuch. Er hatte immer eine Packung bei sich. Die wenigsten benutzte er selbst. Diesmal jedoch nahm er eins und schnäuzte sich kräftig.
Eine Stunde später hatte Marei Täschner ihn zur Tür gebracht. Erleichtert hatte er sich von ihr verabschiedet, war in seinen Wagen gestiegen und losgefahren. Ein paar hundert Meter weiter hatte er sich dieses Gefühls geschämt und sich geschworen, alles zu tun, um diesen Fall schnell aufzuklären und Ilka zu finden. Lebend.
Der Becher war leer. Bert kämpfte gegen das Bedürfnis an, sich einen neuen Kaffee zu holen. Die Putzfrauen hatten das Gebäude verlassen. Es war ganz still. Er machte die Deckenbeleuchtung aus und schaltete die Tischleuchte an. Auch der Verkehrslärm draußen, tagsüber ein permanentes Rauschen, immer wieder unterbrochen von wütendem Hupen, ebbte allmählich ab.
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