Der Maedchenmaler
war vergangen. Ilka hatte ihn durch die trüben Fensterscheiben lediglich erahnen können, aber sie hatte das Licht genossen, das in die Zimmer gefallen war. Jetzt war es kurz nach sechs und schon wieder dunkel draußen.
Ihr Magen rebellierte vor Hunger. In der Küche hatte sie einen Vorrat an verschiedenen Teesorten entdeckt, außerdem Kaffee, Honig, Zucker, Kondensmilch und einen Wasserkocher. Im Kühlschrank standen zwei Flaschen Mineralwasser. Nach etwas Essbarem hatte sie die Schränke vergeblich durchstöbert. Sie fragte sich, wozu es überhaupt eine Küche gab, wenn nichts zum Kochen da war.
Irgendwann hatte sie den Schrank im Schlafzimmer aufgemacht. Er quoll beinah über von Klamotten. Hosen, Kleider, Röcke, T-Shirts, Pullis, Blusen, Schuhe, Stiefel, Unterwäsche, Strümpfe, Schals. Alles war neu. Und sehr, sehr teuer. Gucci. Versace. Dolce & Gabbana. Joop. Das waren nicht gerade die Marken, an die Ilka gewöhnt war. Für die Summe, die ein einziges dieser Teile verschlang, kleidete sie sich im Kaufhaus locker zweimal ein.
Sie konnte sich nicht vorstellen, reich zu sein. Manchmal hatte sie sich ein bisschen mehr Geld gewünscht, das ja, aber der Gedanke an wirklichen Reichtum war ihr immer unheimlich gewesen. Reiche Leute merkten nicht mehr, dass ein Wohltätigkeitsbankett gegen den Hunger auf der Welt nichts als zynisch war.
Ilka hatte nach Jeans und Pulli gegriffen, geduscht und sich angezogen. Es hatte sie irritiert, dass sie die Badezimmertür nicht abschließen konnte, weil kein Schlüssel steckte. Später hatte sie festgestellt, dass es in der ganzen Wohnung keine Schlüssel gab.
Keine Schlüssel, das bedeutete, dass sie Ruben in jeder Minute und jeder Sekunde ausgeliefert war.
Sie hatte nachgedacht. Sich gegen einen Ansturm ungewollter Erinnerungen gewehrt. Sich nach Mike gesehnt. Rotz und Wasser geheult. Die Bücher im Regal an der Wohnzimmerwand gezählt, die Bodenfliesen im Bad. Sie hatte in der oberen Schublade des Sekretärs Papier und Kugelschreiber gefunden und einen Brief geschrieben.
Lieber Mike
.
Sie hatte den Brief in tausend Schnipsel zerrissen und sie im Klo runtergespült. Sich hundeelend gefühlt. Und Angst gehabt. Das vor allem. Eine Angst, so groß, dass sie meinte, sie riechen zu können.
Lieber, lieber Mike.
Sie wusste, zu was Ruben fähig war, wenn man ihn reizte. Sie wusste, wie leicht er wütend wurde. Sogar die Erwachsenen hatten sich früher vor ihm gefürchtet. Nur die Eltern nicht. Und das hatte Ruben rasend gemacht.
Ilka hatte sich auf das Bett gelegt und das Gesicht im Kopfkissen vergraben. Sie musste überlegen, wie sie hier rauskommen konnte. Dazu war es wichtig, so viel wie möglich über ihre Umgebung zu erfahren. Und sie musste Ruben dazu bringen, ihr zu vertrauen. Vielleicht würde er ja unvorsichtig werden, irgendwann.
So war der Tag vergangen. Das Licht hatte sich zurückgezogen und Ilka fühlte sich verlassen. Sie hatte Unmengen von Tee getrunken, um den Hunger zu beschwichtigen. Doch allmählich entwickelte sie Visionen von Hähnchenschenkeln und Sahnetorten.
Ein paarmal schon hatte sie die Hand gehoben, um auf den Klingelknopf neben der Eingangstür zu drücken. Jedes Mal hatte sie sie wieder sinken lassen. Sie war noch nicht bereit, Ruben gegenüberzutreten, denn sie hatte noch immer keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte.
Ruben wartete. Wann würde sie endlich klein beigeben? Sie musste doch Hunger haben. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr zu sich genommen.
Er hatte ein einfaches Essen vorbereitet, eins, das er rasch aufwärmen und nach unten bringen konnte. Hackfleisch mit Schafskäse und Tomaten, dazu Reis. Der Salat lag geputzt und gewaschen im Abtropfsieb, die Vinaigrette stand im Kühlschrank.
Mit Rubens Kochkunst war es nicht weit her. Es gab ein paar Rezepte, die ihm leicht von der Hand gingen, doch er hatte nie gern in der Küche gestanden. Ihm fehlte die Geduld dazu. Judith hatte immer behauptet, sich beim Kochen zu entspannen, und wahrscheinlich stimmte das sogar, denn es hatte ihr einen Riesenspaß gemacht, ihn ständig mit neuen Gerichten zu überraschen. Er konnte das nicht nachvollziehen.
Nach seinem Gefühlsausbruch an der Staffelei hatte er einen langen Spaziergang im Wald gemacht. Er hatte die kalte, würzige Luft eingeatmet, den gefrorenen Boden unter den Füßen gespürt und war allmählich wieder zu sich gekommen. Es entsetzte ihn, dass er so ausrasten konnte. Dass es in manchen Situationen mit
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