Der männliche Makel: Roman (German Edition)
kurz vor einer ausgewachsenen Panikattacke stehe.
»Willst du die Wahrheit hören?«
»Ja.«
Ich lasse mich auf die Bettkante fallen. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig, weil mir vor lauter Schwindel übel wird. Der Bettpfosten erscheint mir plötzlich schief.
Einen bangen Moment später weiß ich, dass ich antworten muss.
»Ich habe es nicht für dich getan, sondern für meine kleine Tochter.«
»Eine … du hast … eine Tochter?«, fragt er mit leicht zitternder Stimme.
Mir krampft es den Magen zusammen. Es ist auch seine Tochter.
Nur zwei Sekunden lang wünsche ich mir, der alte Jake würde zurückkommen. Er würde mich verstehen, mir zuhören und meine Motive erkennen. Er würde meine Gefühle instinktiv erspüren, mich fragen, wie es mir geht, und dann für Klarheit sorgen. Mit dem alten Jake könnte ich reden. Ich könnte ihm von Lily erzählen und ihm die Fotos von ihr zeigen, die ich überallhin mitnehme. Ich könnte ihm sagen, wie sehr sie ihm ähnelt, angefangen vom blonden Haar bis hin zu den großen blauen Augen. Er soll wissen, wie klug sie ist und wie schrecklich stolz ich auf sie bin. Niemand hat eine intelligentere, hübschere und wundervollere kleine Tochter als ich … als wir.
Dem alten Jake könnte ich erklären, warum ich mich vor all den Wochen auf die Suche gemacht und nahezu sämtliche Sozialbausiedlungen im Norden von Dublin abgeklappert habe. Nämlich weil ich nicht wollte, dass meine traumhafte kleine Tochter heranwächst, beschließt, ihren leiblichen Vater zu finden, und feststellen muss, dass er ein Vorstrafenregister hat, ständig den Wohnort wechselt und unter falschen Namen auftritt, um sich Schwierigkeiten zu ersparen. Und was wäre aus Jake geworden, wenn ich mich nicht um ihn gekümmert hätte? Das würde mich wirklich interessieren, denke ich, plötzlich von Empörung und Wut ergriffen.
Und vor allem könnte ich dem alten Jake sagen, dass ich, wie immer im zwischenmenschlichen Bereich, alles in den Sand gesetzt habe. Denn wenn ich es genauer betrachte, habe nicht ich ihn verändert, sondern eher umgekehrt. Als ich versuche, mich zu erinnern, wie ich vor unserer Begegnung war, versagt mein Gedächtnis.
Denn der Drache von früher ist längst einem geerdeteren und entspannteren Menschen gewichen. Und das habe ich einzig und allein Jake zu verdanken. All das und noch viel mehr möchte ich ihm sagen. Ich will, dass er mich in den Armen hält wie vorhin, um mich an seinem Hals auszuweinen. Doch als ich ihm in die Augen schaue, lässt etwas in seinem Blick mich erstarren.
»Wie heißt sie?«, fragt er und sieht mich drohend an. »Und lüg nicht, das würde ich merken.«
»Lily«, antworte ich leise. »Sie heißt Lily.«
»Oh mein Gott … das Mädchen, das im Park bei dir war?«
»Ja.«
»Und du hast trotzdem geschwiegen? Herrgott, Eloise, lügst du denn immer, wenn du den Mund aufmachst?«
»Hör auf damit … bitte. Falls du die Wahrheit hören willst …«
»Du und die Wahrheit sind ein Widerspruch in sich.«
»Beleidige mich, so viel du willst, aber die Wahrheit ist, dass ich es für Lily getan habe. Sie wollte wissen, wer ihr Vater ist, und hat nicht mehr lockergelassen … und …«
»Und sie sollte nicht erfahren, dass sie einen ehemaligen Knacki zum Vater hat«, beendet er tonlos den Satz.
Ich nicke und schaue zu Boden. Ich kann Jake nicht in die Augen sehen, da ich nicht weiß, ob ich seinen kalten und steinernen Blick aushalte.
»Und das hast du mir die ganze Zeit über nicht erzählen können? Warum hast du mir nicht vertraut? Wir waren Freunde, verdammt, beste Freunde, und es hätte noch so viel mehr daraus entstehen können. Nur, dass Freunde einander nicht so behandeln. Ist dir klar, wie schwierig es für jemanden wie mich ist, überhaupt wieder einem anderen Menschen zu vertrauen? Ich habe dir vertraut, ich Idiot …«
Genau, was Helen mir vorausgesagt hat. Wortwörtlich. Verdammtes fotografisches Gedächtnis …
»Wovor hattest du Angst, Eloise?«, spricht er weiter. Inzwischen ist er bleich vor kalter Wut. »Dass ich dich vors Familiengericht zerre und mein Umgangsrecht einklage? Oder dass ich einem kleinen Kind beibringe, wie man einbricht und Autos stiehlt, ohne erwischt zu werden? War das wirklich dein Bild von mir? Einmal Knacki, immer Knacki, dem Typen kann man nicht trauen, insbesondere nicht, wenn es um ein Kind geht …?«
»Nein, das war nicht der Grund!«, protestiere ich mit Nachdruck. Inzwischen bin ich wieder aufgestanden,
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