Der männliche Makel: Roman (German Edition)
angesehen, wie die Online-Ausgabe unter ihrer Regie immer mehr Verlust einfuhr? Wenn diese Tendenz sich fortsetzte, könne die Zeitung in wenigen Jahren Konkurs anmelden. Das liege in der heutigen Zeit durchaus im Bereich des Möglichen. Schließlich sei die Tribune längst untergegangen, und auch die größten Konkurrenten der Post kürzten hinten und vorne und strichen Stellen.
Allerdings hatte er eines übersehen, und zwar eine gefährliche Entwicklung, die er nicht hatte vorausahnen können. Und zwar die Popularität, die Eloise plötzlich nicht nur in der Chefetage genoss. Seth verstand die Welt nicht mehr. Als er bei der Post angefangen hatte, war ihm noch nie ein Mensch begegnet, der so unbeliebt gewesen wäre wie Madame Elliot. Keiner hatte auch nur ein gutes Wort über sie zu sagen.
Ich brauche höchstens zwei Jahre, hatte Seth damals kühn kalkuliert. In der Zeit würde er den undankbaren Job eines Redaktionsleiters hinter sich lassen und auf dem vergoldeten Thron der Chefredakteurin Platz nehmen können. Das Eckbüro in der vierten Etage, die Gehaltserhöhung und den Bekanntheitsgrad eingeschlossen. Das ganze Programm. Also alles, was er sich immer erträumt und wofür er nach Kräften intrigiert hatte.
In letzter Zeit hatte sich jedoch etwas verändert. Das Ganze hatte schon vor einigen Wochen angefangen, als Eloise sich immer wieder unter irgendeinem geheimnisvollen Vorwand aus der Redaktion verdrückt hatte, ohne dass jemand hinter den Grund gekommen wäre. Und dann war das Unfassbare geschehen. Sie begann tatsächlich, ihre Kollegen wie menschliche Wesen und nicht wie an den Schreibtisch gekettete Roboter zu behandeln.
Sie hat jemanden kennengelernt, verlautete es aus der Gerüchteküche. Und dieser Mann schien einen positiven Einfluss zu haben, denn der Drache stellte endlich sein Privatleben vor den Beruf. Deshalb hatte Seth auch dafür gesorgt, dass er diesen großen Unbekannten kennenlernte und der Mann zum Firmenwochenende eingeladen wurde. Damit er ihn nach Strich und Faden verhören konnte.
Die beste Entscheidung seit Langem, wie sich herausstellte. Denn das vergangene Wochenende würde wirklich in die Annalen eingehen. Sir Gavins Frau hatte eine betrunkene Szene hingelegt und dann der ganzen Welt verkündet, dass Eloise ihr Kind durch künstliche Befruchtung bekommen hatte … eine Sensation, die man nicht für Geld kaufen konnte. Seth bedauerte, dass er keine Videokamera dabei gehabt hatte, um Eloises entsetzte Miene für die Nachwelt festzuhalten. Offenbar hatte sie ihrem Freund dieses hübsche Detail verschwiegen, das war für niemanden zu übersehen gewesen, der noch bei klarem Verstand war.
Nicht, dass das illegal gewesen wäre, bedauerlicherweise nicht. Aber trotzdem war es etwas, das sich nicht so einfach übergehen ließ. Und außerdem hatte dieser Jake etwas an sich, das Seth nicht richtig zu fassen bekam. Wenigstens noch nicht.
Oh, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Er hatte ihn beim Stehempfang vor dem Essen ausgehorcht, so gut es ging. Und war gegen eine Wand gelaufen. Obwohl er ihn mit unzähligen Fragen über seine Vergangenheit gelöchert hatte, war das Ergebnis praktisch null gewesen. Dennoch konnte es ja nicht schaden, noch ein bisschen nachzuforschen. Schließlich hat auch Seth seine Karriere als Reporter begonnen und wusste, dass niemand, wirklich niemand, einfach auf der Bildfläche erscheinen kann, ohne eine Vorgeschichte zu haben.
Aber dieser Kerl? Absolut nichts. Hatte eine Schule besucht, von der Seth noch nie gehört hatte. Wich allen Fragen aus. Sie hatten nicht einen einzigen gemeinsamen Bekannten. Nicht einmal einen Arbeitskollegen, bei dem Seth Erkundigungen hätte einziehen können. Und das war in einem Dorf wie Dublin ungewöhnlich, um nicht zu sagen seltsam. Schließlich kannte hier jeder jeden und wusste alles über seine Mitmenschen.
Und dann war da noch dieser Akzent, den Seth nicht einordnen konnte, obwohl er normalerweise ein Händchen dafür hatte, anhand der Sprechweise zu erkennen, in welcher gesellschaftlichen Schicht sein Gegenüber angesiedelt war. Es war ein angelernter Akzent, einer, an dem gefeilt und geschliffen worden war, so viel stand fest.
Wenn Seth von einem überzeugt war, dann von Folgendem: Dieser Jake Keane war nicht der Mensch, der er auf den ersten Blick zu sein schien. Welchen Grund konnte er sonst haben, Gesprächen über seine Herkunft oder seine Familie, die üblichen Themen eben, über die man bei
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