Der männliche Makel: Roman (German Edition)
um sechs abgeholt werden, daran führt kein Weg vorbei. Ich beabsichtige nicht, mit Ihnen zu verhandeln oder Ihnen eine Alternative anzubieten. Außerdem muss ich jetzt los. Ich habe nämlich eine Nachbarin gebeten, auf die Kinder aufzupassen, damit ich mich mit Ihnen treffen konnte.«
Gut, ab diesem Punkt gewann die Verzweiflung die Oberhand, und ich vermochte meinen flehentlichen Tonfall nicht mehr zu verbergen. Diese Frau war meine letzte Hoffnung. Ich durfte sie einfach nicht gehen lassen.
»Mrs. Patterson, wie Sie sehen, gibt es in meinem Beruf keine regelmäßigen Arbeitszeiten. Doch wenn Sie bereit wären, zu mir zu ziehen, natürlich nur vorübergehend, würde ich Ihnen gerne viel mehr als den üblichen Agenturtarif bezahlen …« Ich sah sie mitleidheischend an und bettelte mit Blicken darum, dass sie Ja sagen möge. »Lily ist so ein braves Mädchen«, beteuerte ich. »Alle finden, dass sie sich sehr gut benimmt. Also ist es wirklich kein Problem, sie zu hüten …«
»Ich fürchte, die Antwort lautet trotzdem Nein«, entgegnete Mrs. Patterson mit Nachdruck. »Auf keinen Fall werde ich meinen Mann und meine Enkelkinder im Stich lassen und zu einer wildfremden Frau ziehen, ganz gleich, wie viel Sie mir auch bezahlen. Sie müssen verstehen, dass es im Leben Dinge gibt, die wichtiger sind als jeder Arbeitsplatz oder Geld, zum Beispiel eine Familie«, fügte sie mit einem vielsagenden Blick auf mich hinzu.
Dann griff sie nach ihrer Handtasche und ihren Einkäufen, nickte mir kurz zu und marschierte aus meinem Büro zurück zum Empfang, während ich dastand wie ein begossener Pudel.
Also zurück zur Sitzung, denn offenbar hat Seth Coleman Verdacht geschöpft.
»Erde an Eloise? Sind Sie noch bei uns?« Seine knochigen Finger umfassen einen Kugelschreiber, mit dem er ungeduldig auf den Aktenstapel vor sich klopft. »Wir müssen wirklich fertig werden. Es gibt hier auch Leute, die noch zu arbeiten haben.«
Plötzlich wird mir klar, dass alle mich anstarren und mir die Kontrolle über die Anwesenden zu entgleiten droht. Es ist beängstigend still geworden. Die Leute mustern mich hüstelnd und brennen offenbar darauf loszulegen. Und das heißt, dass ich jetzt gefragt bin. Ich muss wenigstens so wirken, als sei ich am Ball.
»Gut, vielen Dank, Seth«, entgegne ich so zackig wie möglich. »Also sieht die Titelseite der morgigen Ausgabe wie folgt aus: Wir titeln mit der Schlagzeile, dass die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöht hat.«
Am Tisch wird laut gestöhnt, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als die Einwände abzutun.
»Jack, du schreibst den Artikel. Ich brauche den Ausdruck spätestens um vier auf meinem Schreibtisch. Die zweite Schlagzeile ist Nordirland, Ruth, aber nicht mehr als sechshundert Wörter auf Seite eins und einen Kommentar im Inlandsteil auf Seite vier.«
»Seite vier? Das ist ja so unfair!«, ruft Ruth enttäuscht aus, doch ich gebe ihr keine Chance.
Tut mir leid, aber in diesem Geschäft lernt man rasch, Prioritäten zu setzen.
»Die amerikanischen Vorwahlen bleiben bis zur Woche, in der sie stattfinden, im Auslandsteil auf den Seiten sieben und acht, und damit basta«, verkünde ich, während Robbie Turner versucht, mich mit Blicken zu erdolchen. Doch ich lasse mich davon nicht beeindrucken.
»Die Story mag in den USA eine Titelgeschichte sein, Robbie, aber wir sind hier nicht in Washington, richtig? Das USA-Thema für Seite drei ist Obamas Äußerung, er könne sich trotz des schrittweisen Truppenabzugs vorstellen, die Rebellen weiterhin aus Afghanistan verjagen zu wollen. Im Weißen Haus findet um fünf Uhr Ostküstenzeit eine Pressekonferenz dazu statt, was eine lange Nacht für dich bedeutet, Robbie. Ich brauche den fertigen Artikel für den Schlussredakteur, bevor die Spätausgabe in den Druck geht.«
Ein Seufzer aus tiefster Seele von Robbie, der in den letzten Monaten fast immer bis spät in die Nacht gearbeitet und inzwischen vermutlich vergessen hat, wie seine Kinder aussehen. Als ich sein eingefallenes, bleiches Gesicht betrachte, werde ich kurz von Mitleid ergriffen. Doch ich bin darüber erhaben und schreite voran. Weil ich muss. Ja, ich weiß, dass er seine Kinder nie zu sehen kriegt. Aber das trifft auf mich und Lily ebenfalls zu, richtig?
Also marschiere ich unerschrocken weiter.
»Vergesst nicht, dass ich einen Kommentar zum Thema Irish Life and Permanent brauche, und zwar darüber, dass der Versicherungskonzern als Ergebnis des Bankenstresstests
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