Der männliche Makel: Roman (German Edition)
aggressiv wirken, aber das ist er nicht. Inzwischen kenne ich ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemanden unterbuttern will. Das Thema liegt ihm einfach am Herzen. Das zeichnet einen guten Politredakteur aus.
Er redet sich immer mehr in Rage und wirft mit Statistiken um sich, die den Wahlkampfetat der Demokraten, verglichen mit dem der Republikaner, darstellen, und erntet dafür Zwischenrufe wie »Oh, nicht schon wieder! Immer dieselbe Leier!« von den restlichen Anwesenden, die schließlich höhnisch die amerikanische Nationalhymne anstimmen. Seth Coleman lehnt sich mit verschränkten Armen zurück und muss natürlich auch seinen Senf dazugeben.
»Ja, wir alle sind uns dessen bewusst, dass in den USA bald Wahlen stattfinden, vielen Dank, Robbie«, ätzt er, während er mich mit starren eidechsenähnlichen Augen fixiert. »Und wie immer ist Ihr umfassendes Verständnis des Offensichtlichen sehr hilfreich. Könnten wir vielleicht jetzt auf die aktuellen Nachrichten zu sprechen kommen?«
Obwohl ich nicke und den Eindruck vermittle, als würde ich mich für das Ringelspiel interessieren, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich völlig von meinen persönlichen Sorgen in Anspruch genommen bin.
Ich nehme nur als Hintergrundgeräusch wahr, dass unsere Nordirlandkorrespondentin Ruth O’Connell es geschafft hat, Robbie niederzuschreien, die Diskussion an sich zu reißen und leidenschaftlich für einen zweihundert Wörter langen Artikel über eine gestern Nacht in Newry losgegangene Autobombe zu plädieren, die ein Mitglied der PNSI verletzt hat.
Ruth ist aus Belfast, mager und sehnig und hat pechschwarzes Haar. Sie trägt hautenge Hosen, stets in verschiedenen Schwarz- oder Grautönen, wie eine Uniform. Und in ihrem bleichen, farblosen Gesicht malt sich der gleiche erschöpfte Ausdruck wie bei uns allen.
Außerdem ist sie eine brillante Journalistin mit Biss und Beharrlichkeit, wenn sie einer guten Story auf der Spur ist. Sie hat ein ans Unheimliche grenzende Gespür dafür, was in der nächsten Woche auf die Titelseite gehört. Allerdings hat sie den Nachteil, dass sie den Klang ihrer eigenen schrillen Stimme zu gerne hört und dazu neigt, die Sitzungen zu dominieren, indem sie ihr Thema auf die Methode durchdrückt, dass sie die anderen einfach übertönt. Trotzdem bin ich froh, dass ich sie habe, denn obwohl es kaum zu glauben ist, sind wir beide die einzigen Frauen im Raum. Heute ist sie mir eine große Hilfe: Dass sie auf der Frage herumhackt, ob Katholiken andere Motive als Protestanten hätten, der PNSI beizutreten, und welche sozioökonomischen Folgen das für die Gemeinden habe, gibt mir nämlich die Zeit, die katastrophalen Bewerbungsgespräche von heute Revue passieren zu lassen.
Oh mein Gott. Wo soll ich anfangen? Ich nicke, um einen aufmerksamen Eindruck zu erwecken, kann aber nur mein Blut in den Ohren rauschen hören. Vielleicht hat Rachel ja versehentlich eine Schauspieleragentur angerufen und verbreitet, ich wolle ein Casting für die Rolle der dritten Gangsterbraut von rechts in einer Krimiserie veranstalten. Dann könnte ich vielleicht verstehen, warum ich heute nur mit Psychopathinnen zu tun hatte. Unvorstellbar, dass diese Frauen tatsächlich von einer Agentur für Kindermädchen ausgesucht worden sind. Ich fasse es noch immer nicht.
Bewerberin Nummer eins kam zehn Minuten zu spät hereinspaziert. Sie trug einen Trainingsanzug und darüber eine enge Lederjacke mit der Aufschrift … nein, es ist kein Scherz … Rachegöttin in geflammten Buchstaben auf dem Rücken. Oh, und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, hatte sie ein Nasen- und ein Augenbrauenpiercing und eine schwarze Tätowierung seitlich an der Hand. Allein von ihrem Anblick im Empfangsbereich vor meinem Büro wurde mir mulmig, und ich wusste, dass Lily entweder zu weinen anfangen oder mich in aller Unschuld fragen würde, wer denn die gruselige Frau sei und warum sie einen Ohrring in der Nase habe. Keine Chance. Also rief ich Rachel an und forderte sie unmissverständlich auf, die Kandidatin wegzuschicken. Falls sie sich weigern sollte zu gehen, könne sie ihr mit dem Sicherheitsdienst drohen.
Ihr auf den Fersen folgte Bewerberin Nummer zwei, die sich bleich und zitternd in mein Büro schlich und nach Zigarettenqualm stank. Kein Lebenslauf, keine Berufserfahrung, nichts. Wie sie mir sofort mitteilte, habe ihr Freund sie gerade verlassen, weshalb sie nicht nur kein Dach über dem Kopf habe, sondern auch keinen Sinn mehr
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