Der männliche Makel: Roman (German Edition)
im Leben sehe. Um nicht noch näher auf ihr Privatleben eingehen zu müssen, erkundigte ich mich, was sie denn in den letzten Jahren so gemacht hätte, worauf sie erwiderte, sie sei wegen einer manischen Depression stationär behandelt worden. Die gute Nachricht laute, dass sie nun offiziell nicht mehr als selbstmordgefährdet gelte und gern bereit sei, für vierzig Euro die Stunde mein Kind zu hüten. Da ich befürchtete, sie könnte sich an Ort und Stelle aus dem Fenster stürzen, wenn ich ihr sagte, dass sie nicht unbedingt die Richtige sei, flüchtete ich mich feige in ein »Ich melde mich bei Ihnen« und scheuchte sie so schnell wie möglich hinaus.
Das wäre ein Thema für die Titelseite, schimpfe ich lautlos vor mich hin. Die Tatsache, dass es nicht die geringsten Betreuungsangebote für beruflich stark eingespannte Alleinerziehende gibt. Währenddessen redet Ruth unbeirrt weiter. Inzwischen hat sie die Ärmel hochgekrempelt, bei ihr immer ein schlechtes Zeichen, weil das heißt, dass die Zeichen auf Sturm stehen. Sie spult die Ergebnisse einer kürzlichen Umfrage herunter, der zufolge die eingetragenen Mitglieder der PNSI nur zu einer winzigen Minderheit Katholiken seien. Das sei unfair und würde den Friedensprozess um mindestens ein Jahrzehnt zurückwerfen.
Da ist noch so eine Sache mit Ruth. Ich bin noch nie jemandem mit einem so stark ausgeprägten Selbstbewusstsein begegnet. Sie ist phantastisch in ihrem Job, doch manchmal habe ich den Verdacht, dass ihr Leben eine große geballte Faust ist.
Jetzt wirft Kian O’Sullivan, Sportredakteur, ehemaliger Spieler in der irischen Rugbynationalmannschaft und Objekt der Begierde aller alleinstehenden Sekretärinnen in diesem Haus, die ihm, wie ich zufällig weiß, den Spitznamen Don Draper verpasst haben, im Scherz eine Papierkugel nach ihr, fordert sie auf, den Mund zu halten, und fragt, warum bei der Planung der morgigen Ausgabe der Sport immer an letzter Stelle kommt.
»Weil sich die Leute nur sonntags nach den Spielen am Samstag für Sport interessieren, du Blödmann«, knurrt Robbie mit einer Stimme, der man die zwanzig Zigaretten am Tag anhört. Doch aus seinem Mund klingt das eher wie ein Kosename.
»Wirklich, Eloise, du musst mich anhören!« Ruth kreischt beinahe, um den Lärm zu übertönen, und schwenkt ein Bündel Aufzeichnungen, um sich meine Aufmerksamkeit zu sichern. »Das gehört auf die Titelseite, und wenn wir es nicht bringen, tut es der Chronicle , und ich werde einen Kopf kürzer gemacht.« Immer weiter tobt sie und schlägt dabei zornig mit der Faust auf den Tisch. Alle sehen mich an und warten darauf, dass ich die Anwesenden zur Ordnung rufe.
»Eloise?«, sagt Seth Coleman, der mir am Tisch gegenübersitzt. »Wir müssen allmählich zum Ende kommen. Tempus fugit .«
Seth hat eine Schwäche für lateinische Sentenzen, doch ich unterdrücke meinen Ärger und weise ihn darauf hin, dass unser Wirtschaftsredakteur noch nichts beigetragen hat. Damit erteile ich Jack Dundon das Wort, einem älteren, grauhaarigen, blassen, zurückhaltenden Herrn mit Brille, der als Wirtschaftsexperte mehrere Preise gewonnen hat. Er tut sich auf Sitzungen nur selten hervor, hat aber stets gute Ideen und schreibt gut recherchierte Artikel in einer Sprache, die die Leser auch verstehen. Ganz im Gegensatz zu den Wirtschaftsseiten einiger unserer Konkurrenten, für deren Lektüre man beinahe Betriebswirtschaft in Harvard studiert haben muss, um sich einen Reim darauf zu machen.
Er holt tief Luft und wendet sich an die inzwischen mucksmäuschenstillen Anwesenden. »Die Europäische Zentralbank hat eine Zinserhöhung von einem halben Prozent angekündigt«, lautet sein ruhiger Einleitungssatz. »Vielleicht ist das als Titelgeschichte nicht unbedingt sexy, wird aber Hunderttausende von Eigenheimbesitzern betreffen, weshalb sie ausgesprochen wichtig ist.« Während er fortfährt, habe ich Zeit, mich wieder mit meinen panischen Sorgen und drängenden Fragen zu beschäftigen, und erinnere mich an den heutigen Mittag, als eine Bewerberin für die Stelle Kindermädchen/Lebensretterin hereingeschneit kam, die mich ein wenig zuversichtlicher stimmte.
Allerdings meine ich mit »ein wenig zuversichtlicher« nur, dass sie jung und einigermaßen gepflegt war und sogar die Höflichkeit besaß, in angemessener Bekleidung zum Vorstellungsgespräch zu erscheinen, auch wenn ihr Lippenstift die Farbe von Giftmüll hatte. Das Problem war nur, dass sie fast keine Erfahrung mit
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