Der männliche Makel: Roman (German Edition)
möglicherweise verkauft wird. Seth? Setzen Sie Miriam Douglas darauf an, siebenhundert Wörter. Den Lokalteil möchte ich mit dem Autounfall in Kerry aufmachen, bei dem am Wochenende drei Kinder ums Leben gekommen sind. Mit Fotos. Finden Sie heraus, wie alt sie waren, und sprechen Sie mit ihren Mitschülern. Wenn möglich, befragen Sie auch die Familien. Die Story muss wirklich ans Herz gehen. Ich will außerdem sechshundert Wörter über die beiden vermissten Jugendlichen, die neuesten Entwicklungen, und zwar in einer Stunde bitte. Wir müssen auch aktuelle Fotos von den beiden bringen. Derek Maguire soll sich sofort darum kümmern. Die Presseerklärung ist unterwegs, und ich will sie sehen, sobald sie da ist. Für die Gerichtsseite will ich dreihundert Wörter darüber, warum, um Gottes willen, ein verurteilter Drogendealer gestern auf Bewährung freigelassen worden ist. Aber keine Fotos, auf denen er wie ein Finsterling aussieht oder eine Kapuze über dem Kopf hat. Das ist zu abgedroschen und vermutlich das, was der Independent bringen wird. Also besorgen Sie mir ein besseres. Die Weltnachrichten eröffnen wir damit, dass Japan vier seiner beschädigten Reaktoren dichtmacht, gefolgt vom Fall Berlusconi, jeweils sechshundert Wörter und Fotos, eine Viertelseite. Aber ich möchte die Abzüge zuerst auf meinem Schreibtisch. Seth, teilen Sie der Bildredaktion mit, dass ich da nicht mit mir reden lasse. Entwürfe nicht später als vier Uhr. Vielen Dank.«
Und da ist es wieder, das vertraute Hochgefühl, das entsteht, wenn ich das tue, was ich am besten kann. Es putscht mich auf wie ein Adrenalinstoß.
Es ist kurz vor drei, und wie immer übe ich mich in Multitasking. Genau genommen mache ich drei Dinge gleichzeitig. Ich sitze in meinem Büro, überprüfe die Entwürfe für die Anzeigenseiten und schreibe dabei die Rohfassung des morgigen Leitartikels, was beides schon längst fertig sein müsste. Außerdem befinde ich mich in einer Besprechung mit Marc Robinson, dem Chef des Feuilletons unserer Zeitung, einer Beilage im Zeitschriftenformat, die samstags erscheint, aber schon am Montag Redaktionsschluss hat. Also heute. Deshalb ist Marc jetzt hier und streitet mit mir herum. So, wie es in letzter Zeit alle zu halten scheinen.
»Ich muss darauf bestehen, Eloise«, verkündet er, läuft auf und ab und bedenkt mich, um der dramatischen Wirkung willen, mit lodernden Blicken. »Bitte vertrau mir. Ich weigere mich kategorisch, die Titelseite des Kulturteils einem Disney-Film für Kinder zu überlassen … und dabei ist gerade Wim Wenders’ neuer Film herausgekommen. Das beleidigt unsere Leser und … und ist einfach … eine Demütigung. Darf ich dich daran erinnern, dass Kommerz im Feuilleton nichts zu suchen hat. Wir wollen am Puls der Zeit und avantgardistisch sein. Und dieser dämliche Kinderfilm ist in etwa so avantgardistisch wie Großmütterchen erzählt.«
Marc ist, wie sofort klar wird, ein leidenschaftlicher Filmfreund von Anfang dreißig und schafft es sogar, auszusehen wie ein europäischer Filmemacher. Er hat ein kluges Gesicht, eine exzentrische Frisur und eine … sagen wir mal … gewöhnungsbedürftige Brille. Außerdem lautet die allgemeine Auffassung hier im Haus, dass er der offizielle Inhaber des Titels Drückeberger des Jahres ist, denn alle sind genervt, weil er mitten am Tag loszieht, um sich intellektuelle Filme anzuschauen und anschließend eine Kritik darüber zu schreiben. Das heißt, er verfasst dreiseitige Dossiers über Regisseure, von denen ich noch nie gehört habe und deren obskure untertitelte oder schlecht aus dem Finnischen synchronisierte Streifen in Kinos in irgendwelchen Seitengassen laufen.
Meine Aufgabe besteht dann darin, seine Elaborate zu kürzen und sie, na, nennen wir es einmal leserfreundlicher zu machen.
Außerdem befinde ich mich in einem ständigen Tauziehen mit ihm, da wir auch über Kulturangebote berichten sollten, die unsere Leser kennen, also über Bücher, Filme und Konzerte, die populär oder gerade angesagt sind. Für jemanden wie Marc ist das wie ein rotes Tuch, denn in seinen Augen ist ein Film überbewerteter und kommerzieller Hollywoodschund, sobald ihn mehr als ein Dutzend Menschen gesehen haben.
»Pech, Marc«, teile ich ihm streng mit. »Die Osterferien stehen vor der Tür. Also interessieren sich Eltern dafür, welche kinderfreundlichen Filme gerade neu herausgekommen sind. Tut mir leid, doch du musst deinen künstlerischen Anspruch auch hin und
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