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Der männliche Makel: Roman (German Edition)

Der männliche Makel: Roman (German Edition)

Titel: Der männliche Makel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Carroll
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würde, weshalb sie lieber absagten.
    Natürlich war das Ergebnis einer der anstrengenden Abende, an denen sich, abgesehen von Arbeitsthemen, niemand etwas zu sagen hatte. Irgendwann erkundigten sich alle nach dem Namen des nächsten Taxiunternehmens … um halb zehn. Bis heute erröte ich, wenn ich daran denke, wie ich Kaffee anbot und dafür einen Chor von Gegähne und »Oh, weißt du, ich glaube, besser nicht, wenn du nichts dagegen hast. Es ist schon so spät« erntete.
    Und dann ließen sie mich allein in meinem nagelneuen Zuhause zurück, die Außenseiterin, der alle die kalte Schulter zeigen, mit einem Berg von Nachspeisen und einer unberührten Käseplatte, so eilig hatten sie es alle, zu verschwinden. Mein Gott, noch Jahre später erschaudere ich bei der Erinnerung daran. Es war noch schlimmer als die allein verbrachten Weihnachtsabende vor Lilys Geburt. Die Hölle.
    Wie ich also bereits sagte, komme ich meist erst weit nach Mitternacht nach Hause. Nun schleppe ich mich die steinerne Vortreppe hinauf, stecke den Schlüssel ins Schloss, schiebe die Tür mit dem Fuß auf – und es trifft mich fast der Schlag. Das Chaos ist ausgebrochen. Ja, ich gebe viel Geld dafür aus, dass jeden Morgen eine Putzfrau hier erscheint, was man beim Anblick des Tohuwabohus, das ich hier vor mir sehe, jedoch nie glauben würde. Vor Staunen bleibt mir der Mund offen stehen.
    Am Fuß der Treppe liegt ein Pizzakarton mit einer halb gegessenen Pizza. Vor der Wohnzimmertür türmt sich ein Wäscheberg mit darum herum verstreuten schmutzigen Höschen, von denen keines mir und mit Sicherheit auch nicht Lily gehört. Als mir ein widerwärtiger Gestank in die Nase steigt, bemerke ich, dass ich neben zwei überfüllten schwarzen Müllsäcken stehe, die sich hinter der Eingangstür befinden, also viele Kilometer entfernt von den Mülltonnen draußen, wo sie, dem Geruch nach zu urteilen, schon vor Stunden hingehört hätten.
    Niemand zu sehen. Niemand hört mich, und niemand weiß, dass die Chefin in geheimer Mission unerwartet nach Hause gekommen ist. Langsam pirsche ich mich den Flur entlang, begleitet von Adeles Someone Like You , das aus der obersten Etage herunterdröhnt.
    Elka.
    Doch das verschiebe ich auf später und mache mich stattdessen weiter auf die Suche, die sich inzwischen in eine Sicherstellung von Beweisen verwandelt hat. Die mit einem eleganten cremefarbenen Teppich bedeckte Treppe führt hinunter ins Souterrain. Ich habe das gesamte Untergeschoss in eine große Wohnküche verwandelt, die Küchenzeile befindet sich am Ausgang zur Terrasse, die Sitzecke auf der anderen Seite. Man braucht nicht eigens zu erwähnen, dass ich hier weder koche noch esse oder Zeit mit meiner Familie verbringe. Aber so ist eben der Stand der Dinge.
    Ich sehe Lily, bevor sie mich sieht. Ganz allein lümmelt sie in einem grellrosafarbenen Sitzsack vor dem Fernseher und trägt noch den Kittel, den sie immer im Kindergarten anhat. Sie dreht eine blonde Lockensträhne um ihren pummeligen Finger und hat den bleichen, schwammigen und stumpfen Gesichtsausdruck eines Menschen, der schon seit einer Ewigkeit reglos vor dem Fernseher verharrt. Wie immer treten mir beim Anblick meines kleinen Schätzchens, das nur mir gehört, fast die Tränen in die Augen.
    Niemals würde man Lily für meine Tochter oder mich für ihre Mutter halten, da wir uns absolut nicht ähnlich sehen. Wir haben wirklich überhaupt keine optischen Gemeinsamkeiten. Während ich schlank und drahtig bin, ist Lily pummelig und kuschelig und hat dichte blonde Locken und leuchtend blaue Augen; meine Haare sind dünn und dunkel und meine Augen schwarz. Außerdem ist meine Haut meistens fahl, das runde Gesichtchen von Lily mit Sommersprossen übersät. Sie ist der Inbegriff der Niedlichkeit.
    Ich habe noch nie besonders irisch ausgesehen und mich auch nicht so gefühlt. Meine Haut wird nach dreißig Sekunden in der Sonne nicht krebsrot (vielleicht, weil ich nie in die Sonne gehe?). Ich trinke auch kein Guinness (igitt), bin keine Anhängerin der Gaelic Athletic Association (verschont mich, bin ich etwa ein Landei?), wähle nicht die Irische Republikanische Partei und gehe auch nicht zur Kirche (das wäre ja noch schöner). Aber wenn ich mir Lily so anschaue, kann dieses Kind nur aus Irland stammen.
    Wir ähneln einander so wenig, dass uns in den Anfangstagen, als ich mir noch die Zeit freikämpfen konnte, sie im Kinderwagen spazieren zu fahren, niemand für Mutter und Tochter hielt. »Was für

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