Der männliche Makel: Roman (German Edition)
ein reizendes kleines Mädchen«, verkündeten die Leute. »Bei wem sind Sie denn Babysitterin?«
Während Lily nun mit leerem Blick in den Fernseher starrt, steht neben ihr ein Karton mit überteuerten Spielsachen, für die ich beim Zentrum für frühkindliches Lernen ein Vermögen ausgegeben habe. Eigentlich sollten Elka und sie mit diesen Spielsachen spielen. Doch sie liegen unberührt und unbeachtet herum, denn das Kind stiert mit ausdrucksloser Miene auf den Bildschirm. Und zwar auf den Bildschirm des Fernsehers, dessen Betrieb, wie ich Elka ausdrücklich mitgeteilt habe, tagsüber in diesem Hause strengstens verboten ist.
Lily wirkt müde, gelangweilt und vernachlässigt … und zwar so, dass jede Mutter sich in einem Loch verkriechen und still an ihren Schuldgefühlen sterben möchte, bevor das Jugendamt kommt und ihr das Kind wegnimmt. Mich hingegen packt eine kalte Wut.
Ich entlohne Elka fürstlich dafür, dass sie Lily tagsüber richtig betreut. Sie soll mit ihr an der frischen Luft spazieren gehen und im Park die Enten füttern. Ansonsten soll sie mit ihr zu Hause bleiben und sie beschäftigen. Und zwar immer. Ich erwarte, dass sie mit Lily Lesen übt und ihren Wortschatz erweitert, sie gesund mit Biolebensmitteln ernährt und sie vor allem nie aus den Augen lässt. Und wenn sie so benommen und müde wirkt wie jetzt, hat Elka strikte Anweisung, sie zum Mittagsschlaf ins Bett zu legen, der einzige Zeitraum, in dem sie sie nicht beaufsichtigen muss.
Aber das ist noch nicht alles. Was mich wirklich so wütend macht, dass ich vor lauter Zorn Sternchen sehe, ist, dass Elka mir, was ihre täglichen Aktivitäten mit Lily betrifft, Märchen aufgetischt hat.
Beim Grabe meines Vaters, ich werde diese verlogene, freche, überbezahlte und arbeitsscheue kleine Madam erdrosseln, wenn ich sie in die Finger kriege. Oh Gott, wenn das Jugendamt das sähe, wären meine Tage als Mutter gezählt.
»Mama!«
Plötzlich hebt Lily freudestrahlend den Kopf. Im nächsten Moment schließe ich sie fest in die Arme, wundere mich, wie schwer sie geworden ist, und drücke sie fest an mich.
»Mama, du bist daheim!«, jubelt sie, kuschelt das blasse sommersprossige Gesicht an meine Schulter und schlingt mir die pummeligen Ärmchen um den Hals.
»Ja, ich bin daheim, Schatz …«
Innerhalb einer Nanosekunde wechselt ihr Gesichtsausdruck von Glückseligkeit zu betretenem Schuldbewusstsein.
»Bist du da, weil ich im Kindergarten böse war?«
»Nun … zum Teil schon, Schatz.«
»Der Kindergarten ist doof. Ich will da nie wieder hin, und du kannst mich nicht zwingen.«
Ihre Miene ändert sich so schlagartig von zerknirscht zu zornig, dass ich beinahe lachen muss. Sie verschränkt die Arme, reckt das Kinn, schiebt die Unterlippe vor, stemmt die Fersen in meine Hüften und blickt mich trotzig an.
Hat sie den Dickkopf von mir? Hat sie sonst nichts von mir geerbt?, frage ich mich, während meine Schuldgefühle plötzlich ins Unermessliche steigen.
»Nein, Lily, du weißt doch, dass ich dich zu nichts zwinge, Liebes …«
»Miss Pettifer ist gemein, und ich hasse sie, aber wen ich wirklich hasse, noch mehr als Brokkoli, ist …«
»Lass mich raten … ein Junge im Kindergarten, der Tim O’Connor heißt. Richtig, Liebes?«
Ein erbostes Nicken. Dann fängt sie an, sich verlegen zu winden, als wisse sie, was nun kommen wird, und wolle körperlich Abstand dazu gewinnen. Offenbar läuft so der Denkprozess eines Kleinkindes ab: Wenn ich vor dem Problem davonlaufe, verschwindet es von selbst.
»Weißt du, Lily«, meine ich zu ihr und ziehe sie sanft zurück in meine Arme, damit sie sich nicht verdrücken kann. »Ich war gerade bei Miss Pettifer, und sie hat mir erzählt, was passiert ist.«
Die untertassengroßen blauen Augen betrachten mich besorgt wie die eines Welpen, der gerade auf den Teppich gepinkelt hat und genau weiß, dass es jetzt Ärger gibt.
»Möchtest du mir nicht deine Seite der Geschichte schildern, Schatz? Keine Sorge, Mama ist nicht böse«, füge ich hinzu, streiche ihr eine störrische Strähne aus dem Gesicht und warte auf die Antwort.
»Tim hat gesagt, dass ich keinen Daddy habe«, erwidert sie schließlich verlegen. »Er hat gesagt, alle anderen Kinder hätten einen Dad, nur ich nicht. Dann hat er gesagt, ich hätte nur eine Mummy und ein Kindermädchen, das mich abholt. Deshalb habe ich ihn gehauen. Er hat ganz schön geweint. Da hat Miss Pettifer mich bis zur Mittagspause auf die stille Treppe geschickt
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