Der männliche Makel: Roman (German Edition)
dass sie nicht noch Salz in meine Wunden streut.
Miss Pettifer richtet sich auf, ein Zeichen, dass die Besprechung zum Glück vorbei ist. Ich rapple mich ebenfalls hoch und hebe mit zitternden Händen meine Tasche vom Boden auf … und dann, als ich glaube, keine weitere Hiobsbotschaft mehr verkraften zu können, kommt der Todesstoß.
»Natürlich werden Sie Verständnis dafür haben, dass wir ein Verhalten wie das, was wir heute erleben mussten, im Embassy-Kindergarten nicht dulden können. Wie Sie wissen, sind wir völlig überfüllt und haben eine lange Warteliste. Ich habe Lily nur dazwischengeschoben, weil Sie so beharrlich waren.«
Ich nicke und erinnere mich, dass ich beinahe eine Niere hatte spenden müssen, um einen Betreuungsplatz für Lily zu ergattern. Und selbst dann war es nur zur Probe.
»Wir werden sehen, was die Zeit bringt. Wenn Sie meinen Rat befolgen und sich Lilys Umgang mit anderen Kindern grundlegend bessert, könnten wir sie vielleicht wieder aufnehmen …«
»Was soll … Moment mal … sagten Sie gerade: wieder aufnehmen?«
»Wir bedauern es zwar sehr, aber wir haben nicht den Eindruck, dass es ihr in unserer Einrichtung gefällt. Ich denke dabei in erster Linie an das Wohl Ihrer Tochter. Also wünsche ich Ihnen und Lily für die Zukunft alles Gute, Eloise. Doch ich fürchte, dass ich ihren Platz angesichts der derzeitigen Situation an ein anderes Kind vergeben muss.«
Zehn Minuten später biege ich in die Auffahrt meines Hauses ein. Ich ignoriere das wütende Blinken meines Telefons, auf dem schon wieder ein Anruf eingegangen ist. Ein Blick aufs Display verrät mir, dass ich insgesamt fünfunddreißig Anrufe und achtundzwanzig Nachrichten verpasst habe, alle von der Redaktion. Dabei habe ich die eingetroffenen E-Mails noch gar nicht mitgezählt. Ach herrje, denke ich. Jetzt bin ich seit einer knappen Stunde weg, und die führen sich auf, als würde gleich das ganze Gebäude in die Luft gehen.
Ich beschließe, keinen dieser angeblich dringenden Anrufe zu beantworten. Wenn ich zurückkomme, werde ich mir eine Ausrede einfallen lassen. Natürlich werde ich frei improvisieren und hemmungslos schwindeln müssen, doch ich werde mich sicher aus der Affäre ziehen und mich auf meine bis jetzt makellos weiße Weste berufen. Meinetwegen bleibe ich bis zwei Uhr morgens, um die Zeit nachzuarbeiten … aber zuerst muss ich etwas Wichtiges erledigen.
Und so komme ich zum ersten Mal seit etwa einem Jahrzehnt bei Tageslicht nach Hause, fahre durch das Tor und parke auf der winzigen mit Kies bestreuten Auffahrt. Ich habe das Haus kurz nach meiner Beförderung zur Chefredakteurin gekauft, in dem Irrglauben, dass ich Gelegenheit haben würde, tatsächlich Zeit hier zu verbringen. Wie naiv ich damals doch war. Es ist ein hübsches Reihenhäuschen aus rotem Backstein und liegt im reizenden, grünen Rathgar. Zwei Stockwerke, ein Souterrain, ein Arbeitszimmer, das ich nie betrete (keine Zeit, ich nutze dieses Haus eigentlich nur als Schlafplatz), ein geschmackvoll angelegter Garten (dito) und eine wunderschöne, sonnige kleine Terrasse. Früher habe ich einmal davon geträumt, hier draußen zu sitzen und zu frühstücken wie ein zivilisierter Mensch.
Frühstück? Wer, wenn ich fragen darf, hat Zeit zu frühstücken? Wenn ich Glück habe, schaffe ich es, eine Banane runterzuwürgen, während ich im Morgengrauen zur Arbeit fahre … und das ist an den guten Tagen, falls ich unterwegs nicht gleichzeitig eine Telefonkonferenz abhalten muss.
Ich habe ein traumhaftes Wohnzimmer mit Schiebefenstern und einer hohen Decke, in dem ich nie Gäste empfange. Soll das ein Scherz sein? Gäste? Äh … wann denn? Und nicht nur das. Ich habe sogar ein kleines Vermögen für einen hinreißenden viktorianischen Esstisch und Stühle für zwölf Personen hingeblättert, auf denen bis jetzt erst ein einziges Mal jemand gesessen hat. Niemals werde ich den peinlichen Versuch vergessen, zur Hauseinweihung ein paar Leute zum Abendessen einzuladen. Auf der Gästeliste standen auch einige der Tyrannosaurier und ein paar Kollegen aus der Redaktion, die zwar nicht unbedingt Freunde, aber wenigstens Leute waren, die mich nicht zu verabscheuen schienen. Ganz davon abgesehen, dass es ohnehin nicht leicht war, jemanden zum Kommen zu überreden. Vermutlich gingen die Kollegen automatisch davon aus, dass es sich um ein Letztes Abendmahl handelte, in dessen Rahmen die Kündigung bei mir zu Hause und nicht im Büro ausgesprochen werden
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