Der männliche Makel: Roman (German Edition)
vor den Kopf gestoßen, dass ich nicht antworten kann. Ich kann nicht vergessen, wie Lily sich ausgedrückt hat. Sie habe einen Dad, der eines Tages kommen würde, um sie zu holen. Sind das wirklich die Gedanken, die ihr durch den Kopf gehen?
Und wenn ja, seit wann?
Ich gerate in Panik, sodass ich plötzlich keine Luft mehr bekomme. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Es fühlt sich an, als hätte jemand auf mich geschossen. Ein scharfer, brennender Schmerz, der mich zerreißt.
Denn Lily hat mich bis jetzt nie nach ihrem Vater gefragt. Nie, kein einziges Mal. Vielleicht weil sie seit ihrer Geburt so behütet aufgewachsen ist. Immer nur zu Hause und mit einem Kindermädchen. Erst seit sie in den Kindergarten geht, ist ihr offenbar klar geworden, dass die anderen Kinder zwei Elternteile haben, die sie hinbringen und später wieder abholen. Etwas, das sie eindeutig nicht hat. Und was hat meine kleine Tochter stattdessen? Eine Mutter, die sie eigentlich nur einmal pro Woche wirklich sieht, und eine endlose Reihe von Kindermädchen, von denen sie nur eines wirklich zu mögen scheint – und das uns in wenigen Tagen verlassen wird.
Ich habe einen Dad, und eines Tages kommt er, um mich zu holen.
Fast kann ich hören, wie ihr hohes Babystimmchen das stolz, trotzig und im Singsangton verkündet.
Ja, ich wusste, natürlich wusste ich es, dass ich dieses unangenehme Gespräch irgendwann mit ihr führen und ihr würde erklären müssen, warum ich aus freien Stücken alleinerziehend bin … Ich habe nur nicht geahnt, dass es so bald sein würde. Und wie soll ich einem unschuldigen kleinen Kind erklären, dass ich seinem Vater nie begegnet bin? Dass er eine namenlose, gesichtslose Petrischale in einem Industriegebiet in Sandyford ist? Ich besitze eigentlich nur die Basisinformationen über ihn: Größe, Augenfarbe, Haarfarbe, Beruf und IQ. Und das Schlimmste ist, dass er nie kommen wird. Wie sollte er auch? Er weiß ja nichts von ihrer Existenz. Oder von meiner.
Du heiliger Strohsack, was hat dieses Kind für Chancen? Keinen Vater und, nach dem, was ich mühelos zwischen den Zeilen von Miss Pettifers Worten lese, außerdem eine Rabenmutter. Als ich sie über den Schreibtisch hinweg betrachte, kann ich die Sprechblase buchstäblich aus ihrem Kopf aufsteigen sehen. Und in der steht, dass es vermutlich in den Bergen Afghanistans eine bislang noch unentdeckte Terrorzelle gibt, die fürsorglicher ist als ich.
Es führt kein Weg daran vorbei. Ich bin eine schlechte Mutter, deren Kind nicht einmal weiß, wer seine wahren Eltern sind. Ein Kind, das ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, kaum zu Gesicht bekomme. Und nun schlägt meine Lily, mein kleiner blonder Engel, nach anderen Kindergartenkindern, die sie hänseln, weil sie keinen Dad hat. Oh mein Gott.
Gerade wische ich mir die winzigen Perlen Angstschweiß weg und überlege, wie ich das wieder hinkriegen und was ich tun soll, als Miss Pettifer mich aus meinen Gedanken reißt, als käme da noch mehr … und Schlimmeres.
»Verstehen Sie jetzt, warum ich Sie angerufen habe, Eloise?«
»Ja, natürlich, und vielen Dank, dass Sie mich informiert haben …«
Als ich mit weichen Knien aufstehen will, hebt sie die Hand, um mich zurückzuhalten.
»Da wäre noch etwas …«
Benommen sehe ich sie an. Mir graut vor ihrem nächsten Satz. Doch sie setzt sich neben mich, nimmt meine Hand und spricht wie ein normaler Mensch mit mir.
»Kopf hoch, Eloise, ich weiß, dass es nicht leicht war, sich das anzuhören. Es war auch nicht einfach für mich, es Ihnen zu sagen, doch ich hätte weder Ihnen noch Lily einen Gefallen getan, wenn ich es Ihnen verschwiegen hätte. Glauben Sie mir, Sie sind keine schlechte Mutter. Sie sind nur völlig überlastet. Und Lily ist im Grunde ihres Herzens ein reizendes Mädchen, das wir alle sehr gernhaben. Allerdings dürfen Sie nicht vergessen, dass diese kostbaren Jahre mit Ihrem Kind sehr kurz sind und im Nu vorbei sein werden. Ehe Sie sich versehen, wird sie eine unabhängige junge Dame sein, die Sie nicht mehr braucht. Also hören Sie bitte auf meinen Rat, bevor es zu spät ist. Erklären Sie ihr die Sache mit ihrem Vater. Sie brennt darauf zu erfahren, warum ihr Leben sich von dem anderer Kinder unterscheidet, und ich weiß, dass Sie es nicht bereuen werden. Ansonsten wird sie versuchen, ihn selbst aufzuspüren, wenn sie älter ist, und Sie möglicherweise hassen, weil Sie nicht offen mit ihr waren.«
Ich sehe sie flehentlich an und bin dankbar,
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