Der männliche Makel: Roman (German Edition)
aufwachen. Dann wird jeder Gedanke an ihren Vater aus ihrem Köpfchen verschwunden sein, als hätte es ihn nie gegeben.
Das glaube ich auch weiterhin, während ich das Gästezimmer aufräume und für Helen vorbereite. Und die Überzeugung hält sich, als Lily aufsteht, strahlt, weil ich noch zu Hause bin, und sofort nach oben in ihr Zimmer geht.
Sie verbringt eine Ewigkeit dort, und während ich Seth Coleman eine Mail schicke und das Gästebett frisch beziehe, fällt mir auf, dass sie verdächtig still ist. Also werfe ich einen raschen Blick ins Kinderzimmer, um nach ihr zu sehen.
»Schau mich an, Mama!«, jubelt sie aufgeregt und wirbelt in den Sachen herum, die sie gerade angezogen hat. Ein rosafarbener Ballettanzug, ein mit Strasssteinen besetztes, passendes Ballettröckchen und Kinderpumps mit Glitzer – in welcher Farbe wohl? Richtig, Kaugummirosa.
»Du bist sehr hübsch, Schätzchen«, sage ich geistesabwesend. »Jetzt komm mit runter. Ich möchte, dass du etwas zu Abend isst …«
»Nein! Abendessen ist doof! Ich spiele jetzt Verkleiden.«
»Du kannst auch noch später Verkleiden spielen. Hast du dich für Tante Helen so hübsch gemacht?«
»Nein, Mama!«, schreit sie, einem hysterischen Anfall nah, und stampft dabei mit dem Fuß auf, eine theatralische Geste, die sich selbst eine schlechte Schauspielerin in einem Stummfilm niemals gestattet hätte. »Das ziehe ich an, wenn wir uns mit Daddy treffen. Wie du versprochen hast. Weißt du noch? Du hast es versprochen!«
In diesem Moment läutet das Telefon in der Tasche meines Hosenanzugs.
Und diesmal sehe ich nicht einmal nach, wer dran ist.
Kapitel drei
»Achte einfach nicht darauf«, sage ich zu Helen, sobald sie sich häuslich eingerichtet und akklimatisiert hat. »Lily hat sich gerade in den Kopf gesetzt, dass sie einen Dad hat, den sie vielleicht sogar kennenlernen wird. Mehr ist nicht dabei. Sicher wird sie die Sache bald vergessen haben, hab Geduld.«
Bis zum folgenden Wochenende hält sich mein Glaube, dass das Thema »wenn ich Daddy kennenlerne« ad acta gelegt ist. Leider ergibt sich trotz all meiner Bemühungen erst dann ein Zeitfenster, in dem ich Ruhe von der Arbeit habe, sodass ich mich ein wenig zu Hause aufhalten kann. »Ein wenig« bedeutet, dass ich es am Freitagabend schaffe, die Titelseite für die Samstagsausgabe verhältnismäßig früh abzusegnen.
Jedenfalls hetze ich nach Hause, um Lily in die Badewanne und ins Bett zu stecken, und sehne mich danach, sie ein bisschen zu bemuttern. Allerdings muss ich zu meiner Enttäuschung feststellen, dass ich zu spät komme.
Helen erwartet mich unten in der Wohnküche vor dem Fernseher. Sie hört nicht, dass ich den Raum von der anderen Seite her betrete. Als ich sie betrachte, kann ich nur denken, wie seltsam ich es finde, dass Helen sich in den letzten Jahren sehr verändert hat und dennoch die Alte geblieben ist. Sie hat zugenommen, aber das Glück, dass es ihr steht. Ihr Gesicht ist weicher geworden, sodass sie sogar jünger wirkt. Ihr Haar ist immer noch seidig, fein und blond, ihre Augen sind graublau. Außerdem hat sie sich die Ausgeglichenheit und die durch nichts zu erschütternde gute Laune bewahrt. Sie hat auch weiterhin eine positive Lebenseinstellung, ist also das genaue Gegenteil von mir.
Helen ist adoptiert, was mir schon immer das Gefühl vermittelt hat, nicht gut genug für meine Eltern zu sein, weshalb sie das Bedürfnis hatten, sich eine zweite Tochter zu besorgen. Zumindest habe ich das damals so gesehen. Es hat mich als kleines Mädchen sehr gekränkt, und zwar mehr, als ich es mir habe anmerken lassen. Bis heute steht mir die Erinnerung schmerzhaft klar vor Augen und kann mir noch immer wehtun. Als ich aus der Grundschule nach Hause kam, teilte mein Dad mir mit, im Wohnzimmer warte eine »Überraschung« auf mich. Natürlich war ich sehr aufgeregt und wurde kurz darauf bitterlich enttäuscht, als ich nur mein zerschrammtes altes Bettchen mit einem schlafenden Baby darin vorfand. Ich hatte gedacht, dass ich mindestens ein Mäppchen mit Zirkel, Geodreieck, Lineal und Taschenrechner für den Matheunterricht kriegen würde. Etwas Nützliches eben.
Im Laufe der Zeit dämmerte mir dann allmählich die Wahrheit: Mum und Dad hatten eine kleine Tochter nach Hause gebracht, die – so erschien es mir zumindest mit fünf – ihrem Idealbild eher entsprach. Eine Tochter, die hübsch und blond war, lispelte und kicherte, gerne Rosa trug und überallhin eingeladen wurde. Und
Weitere Kostenlose Bücher