Der männliche Makel: Roman (German Edition)
die sie eindeutig lieber hatten als mich, auch wenn sie das nur über ihre Leiche zugegeben hätten. Ich habe noch im Ohr, wie die drei Abend für Abend fröhlich lachten und herumalberten wie eine richtige Familie, während sie sich unten im Fernsehen die Show anschauten, auf die sie sich hatten einigen können. Unterdessen saß ich allein oben in meinem Zimmer, machte Hausaufgaben und unterdrückte die Wuttränen, weil ich so offensichtlich ausgeschlossen wurde. Mit fünf ist man noch ziemlich jung, um zu lernen, was Zurückweisung bedeutet, doch mir blieb leider nichts anderes übrig.
Viele Jahre später vertraute mir meine Mutter nach einigen Gin Tonics an, dass ich die Situation wirklich missverstanden hätte. Dad und sie seien nur von den vielen Anforderungen, die es mit sich bringe, ein hochbegabtes Kind großzuziehen, völlig ausgelaugt und erschöpft gewesen – die Förderkurse, die ständigen Intelligenztests, die Geigen-, Cello- und Klarinettenstunden und dass ich offenbar nur wenige Stunden Schlaf gebraucht und stattdessen in den langen und einsamen Nächten ein Buch nach dem anderen verschlungen hätte.
Laut Mum wäre das ja noch in Ordnung gegangen. Doch es hätte ihnen wirklich zu schaffen gemacht, ständig von Geburtstagsfeiern, gemeinsamen Kinobesuchen oder Ausflügen in den Zoo zu hören, zu denen ich von meinen Mitschülern nie eingeladen worden sei. Aber sobald sie die kleine Helen adoptiert hätten, hätte sich all das geändert. Denn sie sei, Gott sei Dank, ein normales Kind gewesen, das Matheproben verpatzt und mit dem Lesenlernen gekämpft habe, dafür aber fröhlich, freundlich und überall beliebt gewesen sei. Sie konnte sich vor Spielterminen nicht retten und übernachtete ständig bei irgendeiner Schulfreundin. War mit anderen Worten das genaue Gegenteil von mir. Und, obwohl sie es beide abstritten, ihr Lieblingskind. Sie hängten das zwar nie an die große Glocke, doch ich wusste es. Herrgott, schließlich war ich nicht auf den Kopf gefallen. Natürlich wusste ich es.
Und jetzt leben wir zum ersten Mal seit unserer Jugend wieder unter einem Dach. Nur, dass ich inzwischen keine kindliche Eifersucht auf sie mehr empfinde, sondern sie als eine Art Heilige betrachte. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie unbeschreiblich dankbar ich ihr bin, weil sie mir hilft und mich erträgt, wozu nicht viele bereit wären. Ich bin so froh, dass sie alles stehen und liegen gelassen hat, um mich aus meiner Notlage zu retten, auch wenn ich darauf bestanden habe, ihr viel mehr zu bezahlen, als Elka je bekommen hat. Außerdem habe ich betont, dass es nur vorübergehend ist, bis ich eine dauerhafte Lösung gefunden habe. (Keine einfache Aufgabe, weil ich bei fast allen Vermittlungsagenturen der Stadt auf der schwarzen Liste stehe.)
»Hallo, da bin ich. Na, wo ist Lily?«, frage ich, immer noch atemlos von der Hetze hierher, obwohl ich die Antwort schon kenne. Das Haus ist viel zu still. Also muss sie bereits im Bett sein.
»Sie schläft schon seit Stunden.« Helen, die auf dem Sofa vor dem Fernseher liegt und Eiscreme direkt aus der Packung isst, lächelt mich fröhlich an. »Oh, du hättest sie in der Wanne sehen sollen! Sie war ja so niedlich! Wir hatten solchen Spaß. Dann hat sie ihren rosafarbenen Schlafanzug angezogen und darauf bestanden, dass ich ihr Dornröschen vorlese. Wusstest du, dass das inzwischen ihr Lieblingsmärchen ist? Und seit Kurzem erzählt sie nach dem Vorlesen die ganze Geschichte nach. Es ist erstaunlich, wie sie sich jedes Wort merken kann. Sie hat ein unglaubliches Gedächtnis, beinahe fotografisch wie deines …«
Und so redet sie immer weiter, während ich wie angewurzelt dastehe und sie entgeistert anstarre. Nein, ich wusste nicht, dass Dornröschen ihr Lieblingsmärchen ist. Auch nicht, dass es ihr Freude macht, es gleich nach dem Vorlesen nachzuerzählen. Woher auch? Sogar an dem Abend, an dem ich mich relativ früh habe loseisen können, komme ich zu spät.
»Ich hätte das alles sehr gern mit ihr gemacht«, entgegne ich grundlos patzig, da ich so enttäuscht bin. »Nur ein einziges Mal, nur heute Abend. Und du wusstest das genau. Ich habe fast das Auto zu Schrott gefahren, so sehr habe ich mich beeilt. Außerdem musste ich mir eine Tonne Ausreden einfallen lassen, um früher gehen zu können …«
»Aber es ist halb acht!«, beharrt Helen. »Das arme Kind war todmüde. Wir waren heute Nachmittag im Park, um die Enten zu füttern. Weil das Wetter so schön war, sind
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