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Der männliche Makel: Roman (German Edition)

Der männliche Makel: Roman (German Edition)

Titel: Der männliche Makel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Carroll
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wir viel länger geblieben als geplant. Dann sind wir nach Hause gegangen und haben zu Abend gegessen. Sie ist praktisch über ihren Spaghetti eingeschlafen. Was hätte ich tun sollen?«
    Ich seufze tief und schicksalsergeben auf und sage ihr, dass alles in Ordnung und nicht ihre Schuld ist. Ich hätte mich nur so darauf gefreut, mein kleines Mädchen zu sehen. Doch sie kenne mich ja nur allzu gut und wisse, dass sie mich nicht ernst nehmen dürfe, wenn ich wegen Schlafmangels schlechte Laune hätte. Und so wendet sie sich rasch wieder ihrer Fernsehsendung zu.
    Die Rollenverteilung in unserer Geschwisterbeziehung war von Anfang an geregelt. Ich bin die böse Gesetzeshüterin, während ihr der Part der guten Polizistin auf den Leib geschrieben ist. So hat das Besetzungsbüro schon in unserer Kindheit entschieden, und offenbar wird das auch so bleiben.
    Hinzu kommt, dass sie offenbar in ständigem und täglichem Kontakt mit unserer Mutter steht und sich bemüßigt fühlt, mir ausführlich darüber Bericht zu erstatten. Gut, in jeder Familie gibt es jemanden wie Helen, die Person, die alles zusammenhält und ihr Bestes tut, damit jeder ständig über jeden im Bilde ist, ganz gleich, auf wie viel Desinteresse und Achselzucken sie auch stößt. Seit ihrem Einzug versorgt Helen mich ununterbrochen mit den neuesten Nachrichten. »Weißt du was, Mum hat sich gerade hübsche neue Terrassenmöbel für den Garten gekauft. Die aus Holz sind nach dem Dauerregen, den sie letztens in Marbella hatten, einfach auseinandergefallen. Und sie hatte ja schon seit … oh … Ewigkeiten ein Auge auf welche aus Schmiedeeisen geworfen.«
    Habe ich mit meiner Mutter je ein Gespräch über Gartenmöbel geführt? War mir überhaupt bekannt, dass sie einen Garten hat? Meine letzte Unterhaltung mit ihr liegt eine gute Woche zurück, und selbst da hat sie nur angerufen, um mit Lily zu reden.
    Ach, Lily. Offenbar ist selbst ein kleines Kind nicht immun gegen Helen und ihre Charmeoffensive. So etwas habe ich noch nie erlebt. Lily warf einen Blick auf die ihr mehr oder weniger fremde Frau, an die sie sich vage von Weihnachtsfeiern und den vielen Geburtstagskarten und Geschenken erinnert, die sie im Laufe der Jahre aus Cork bekommen hat, und hat ihre Tante Helen vom ersten Moment an angebetet. Wie sich herausstellt, hat Helen von Natur aus ein Händchen für den Umgang mit Kindern, so wie sie ein Händchen für den Umgang mit allen Menschen hat. Wenn ich nun, was selten vorkommt, zu Hause bin, kriege ich von Lily inzwischen nur einen kräftigen Schubs, gefolgt von den Worten: »Nein! Nicht du! Ich will, dass Tante Helen mir vorliest. Dann kann Tante Helen mich baden und ins Bett bringen.«
    Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich könnte ich Helen die Füße küssen, doch das heißt nicht, dass es mir nicht schrecklich wehtut. Seit Miss Pettifers Gardinenpredigt will ich einfach mehr Zeit mit Lily verbringen. Ich will diejenige sein, die sie erzieht und sie mit der Aufmerksamkeit überschüttet, die sie braucht. Und dennoch werde ich mittlerweile weggestoßen, während Helen die Rolle der Mutter übernimmt, die ich gerne wäre. Die ich zu sein versuche, wenn ich es nur könnte.
    Wie soll man es in Worte fassen, wenn man sich plötzlich daheim unerwünscht fühlt? Wenn man unter seinem eigenen Dach überflüssig geworden ist?
    »Nein, bitte hetz dich nicht mit dem Nachhausekommen, Eloise«, hat Helen mir diese Woche mehrmals gesagt. »Du brauchst deine Sitzung nicht zu streichen, um dich früher aus dem Büro loszueisen. Lily und ich verstehen uns prima. Bleib nur in der Redaktion. Ich weiß, wie wichtig dir das ist. Und mach dir keine Sorgen. Hier ist alles in Butter, und wir haben viel Spaß!«
    Inzwischen waren die beiden zusammen im Park, im Kino und im Spielzeugmuseum. Sie haben mit allen Puppen, die Lily besitzt, im Garten Tee getrunken und am Sandymount-Strand gepicknickt. All die Dinge, die ich gerne mit Lily unternehmen würde, aber nicht kann.
    Wenn ich also gnadenlos ehrlich bin … bin ich zu gleichen Teilen dankbar … und auch ziemlich eifersüchtig. Schmerzhafte Kindheitserinnerungen kommen wieder hoch. Zum Beispiel, dass alle, ja, absolut alle, sie lieber hatten als mich. Sogar meine eigene Tochter, wie es scheint.
    »Weißt du, Eloise, ich habe nachgedacht.« Strahlend blickt Helen über die Sofalehne und macht den Fernseher leiser. Wie ich inzwischen herausgefunden habe, kein gutes Zeichen, da dann meist eines ihrer

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