Der männliche Makel: Roman (German Edition)
eine Frau war, die nur selten Gefühle zeigte und sich seit ihrer frühesten Kindheit nicht mehr öffentlich hatte gehen lassen.
Plötzlich hatte sie ihr künftiges Leben vor sich, und zwar so deutlich, als wäre es bereits Vergangenheit. Glasklar sah sie sich mit vierzig und dann mit fünfzig, bis hinein ins Rentenalter. Immer noch als Chefredakteurin, immer noch achtzehn Stunden täglich im Büro und immer noch allein. Und Jahr für Jahr tat sie so, als feiere sie bei lauwarmem Sekt einen Tag, der ihr eigentlich nichts bedeutete, inmitten von Fremden, in deren Mienen sich ein Ausdruck malte, der sie inzwischen überallhin verfolgte: eine Mischung aus Mitleid und Grauen.
Manchmal erkennen wir die wichtigsten Momente unseres Lebens erst, wenn sie schon längst vorbei sind, doch nicht Eloise. Es war zwar nur schwer vorstellbar, dass dieser traurige Abend ihr ganzes wohlgeordnetes Leben verändern sollte, aber genau das würde geschehen.
Wenn sie viele Jahre später zurückblickte, würde sie diesen Moment als denjenigen benennen, in dem der Himmel ihr etwas ins Ohr geflüstert und sie plötzlich genau gewusst hatte, was zu tun war: Sie musste ihr Leben ändern und das Problem lösen. Denn genau so stellte es sich für einen Menschen mit ihrem scharfen mathematischen Verstand dar: als Problem, das gelöst werden musste wie eine Gleichung.
Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – genau das sollte auch passieren.
Und so wischte sich Eloise Elliot, erfüllt von der blendenden Klarheit, die man nur an den Scheidewegen des Lebens empfindet, die brennenden, geröteten Augen ab, holte tief Luft und traf eine der schnellen, vernünftigen und rationalen Entscheidungen, für die sie berühmt war.
Es war Zeit, die Ärmel hochzukrempeln.
Teil eins – Eloise
Kapitel eins – Knapp vier Jahre später
Nicht heute. Bitte nicht heute. Ich kann gar nicht sagen, wie wenig ich das heute gebrauchen kann.
Obwohl es kaum halb sechs Uhr morgens ist, droht mein Leben aus den Fugen zu geraten, etwas, das in letzter Zeit mit beängstigender Häufigkeit geschieht. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als ich versuche, mich im Morgengrauen aus dem Haus zu schleichen, denn Elka, mein polnisches Kindermädchen, sucht sich ausgerechnet diesen verflixten Tag aus, um mir eine Szene zu machen.
Ich pirsche mich also barfuß nach unten, um ja niemanden zu wecken, wohl wissend, dass ich zu spät zur morgendlichen Redaktionssitzung kommen werde, ohnehin kein guter Start in den Tag. Im nächsten Moment kommt Madam, noch im Morgenmantel, aus ihrem Zimmer marschiert und bittet nicht etwa um ein »kurzes Gespräch«, sondern fordert es ein.
»Äh … ja, natürlich, Elka«, antworte ich. Sofort schwant mir Übles, und ich senke die Stimme zu einem Flüstern, um Lily nicht zu stören.
Lily ist übrigens meine kleine Tochter, knapp drei Jahre alt und der Sonnenschein im Leben ihrer abgekämpften und erschöpften Mummy.
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich, beiße mir auf die Zunge und mache mich auf das Schlimmste gefasst. Elka ist bis jetzt das einzige Kindermädchen, das Lily vergöttert. Ihr zuliebe benimmt sie sich sogar, und Elka scheint sie wirklich gernzuhaben.
»Ich muss reden mit dir, und ich dich sehe nur um diese verruckte Uhrzeit«, verkündet sie in ihrem noch immer gebrochenen Englisch. Und das, obwohl ich in den letzten Monaten ein kleines Vermögen in Hörbücher und Privatunterricht investiert habe.
Bitte sag jetzt nicht, dass du gehst … bitte, lieber Gott, mach, dass nicht wieder eine verschwindet …
»Schieß los, Elka«, erwidere ich äußerlich ruhig, obwohl mir davor graut, was nun als Nächstes kommt.
»In Vertrag steht, dass du mich bezahlst für aufpassen Lily«, fährt sie in anklagendem Ton fort. »Aber du musst verstehen, dass das vernunftige Stunden heißt.«
»Du meinst, vernünftige Arbeitszeiten«, antworte ich. »Dürfte ich wissen, wie du plötzlich darauf kommst?«
»Du hast Nerven, mich zu fragen das.«
»Pst! Geht das auch ein bisschen leiser? Sonst wacht Lily auf.«
»Ich großes Problem mit den Arbeitszeiten, die du von mir verlangst. Meine Freundinnen, die auch Kindermädchen sind, müssen alle nicht arbeiten so lange wie ich.«
»Aber, Elka, so viel arbeitest du nun auch wieder nicht … zumindest nicht verglichen mit mir …«
»Schau auf Uhr! Halb sechs! Und schon willst du ins Büro, und ich muss mich um Lily kümmern. Eigentlich solltest du abends um sieben zu Hause sein, und ich
Weitere Kostenlose Bücher