Der männliche Makel: Roman (German Edition)
aufgehört, sämtliche fremden Männer in Parks und Bussen anzusprechen und sie zu fragen, ob sie vielleicht ihr Dad seien. Natürlich krabbelt sie frühmorgens immer noch in mein Bett, um mit mir zu kuscheln und ein wenig zu reden. Dann hält sie plötzlich inne, lutscht einen Moment am Daumen und fragt mit ihrem schlaftrunkenen heiseren Stimmchen völlig aus dem Zusammenhang gerissen: »Hast du meinen Daddy schon gefunden, Mama? Du findest ihn doch bald, oder?«
Ich ziehe sie fest an mich, küsse sie, antworte, dass Mama alles hält, was sie verspricht, und sichere ihr zu, dass sie ihn eines Tages kennenlernen wird. Eines Tages.
Übrigens habe ich zur großen Freude aller Kollegen die erste Redaktionssitzung des Tages auf neun Uhr verlegt, hauptsächlich deshalb, damit Lily und ich diese kostbaren Momente miteinander genießen können. Da Helen den restlichen Tag mit ihr verbringen kann, gehören die Morgenstunden mir. Das Thema Dad beschäftigt Lily zwar immer noch, und sie überrascht mich wieder und wieder damit, doch es kommt inzwischen seltener vor. Hauptsächlich, und das muss ich ihr zugutehalten, habe ich das Helen zu verdanken, die dem Kind seit ihrem Einzug vor all den Wochen unbeschreiblich nahegekommen ist.
Jake und ich haben uns im Laufe der letzten Wochen wider Erwarten angefreundet. Ich kann ihm Dinge erzählen, die sonst niemand weiß und die kein Mensch je verstehen würde. Und er hört mir geduldig zu und findet immer einen Weg, mich zum Lachen zu bringen, wenn ich mich wieder in etwas hineinsteigere. Ich weiß: ich und lachen. Ich werfe tatsächlich den Kopf in den Nacken und muss mir den Bauch halten, bis das Kichern aufhört.
Tag für Tag und Abend für Abend gibt er mir weise und vernünftige Ratschläge. Im fraglichen Moment höre ich sie vielleicht nicht gern, doch die Herangehensweise entpuppt sich unweigerlich als richtig. Außerdem widerspricht er mir nicht, wenn ich mich wieder einmal in Tiraden ergehe und mich über die aktuellen Bürointrigen auslasse. Und dann stutzt er in aller Seelenruhe meine Sorgen auf das richtige Format zurück. Er ist ein richtiger Freund, ein rarer und kostbarer Edelstein, wie ich ihn zuvor noch nie hatte.
Seltsam, zum ersten Mal kommt mir ein anderer, völlig abwegiger Gedanke in den Sinn. Obwohl ich mir ständig auf die Schulter klopfe, weil ich ihn zu seinem Vorteil verändert habe, könnte es sich womöglich genau umgekehrt verhalten. Hat er vielleicht größeren Einfluss auf mich? Ich kriege es noch nicht ganz zu fassen, aber seit ich ihn kenne, bin ich viel entspannter im Umgang mit meinen Mitmenschen. Nicht, dass das jemandem aufgefallen wäre, aber ich ernähre mich besser, schlafe besser, habe seltener Magenkrämpfe (mein persönliches Stressbarometer) und … ich bin einfach zufriedener und dankbarer für alles, was ich habe.
In den letzten Wochen habe ich nach sehr langer Zeit mein Lächeln wiedergefunden.
»Sag mal, Eloise«, meint Helen zu mir, »was hast du langfristig vor? Mit Jake, meine ich?«
Es ist spät am Abend. Ich habe mich gerade von einer Besprechung mit dem Schlussredakteur nach Hause geschleppt, und jetzt gönnen wir uns das dringend nötige Glas Wein und ein Gespräch darüber, wie unser Tag gelaufen ist. Eine andere neue Angewohnheit, die mir allmählich ans Herz wächst. Heute Abend klingt Helen ein wenig geistesabwesend und gestresst, was so gar nicht zu ihr passt. Bislang ist sie immer eine strenge Verfechterin der Einstellung gewesen, dass die Unterstützung, die ich Jake gegeben habe, gut für Lily und somit gut für uns alle ist. Also packe ich nach ein paar aufmunternden Gläsern Wein den Stier bei den Hörnern.
»Helen, hoffentlich stört dich die Frage nicht, aber was ist los? Was bedrückt dich? Ich blicke da nicht ganz durch. Weshalb fragst du mich plötzlich nach langfristigen Plänen?«
»Ich war nur ein wenig … besorgt, worauf das Ganze hinausläuft … mehr nicht.«
»Komm schon, Liebes. Wenn du mir etwas zu sagen hast, würde ich mich freuen, wenn du einfach mit der Sprache herausrückst. Außerdem gibt es doch keinen Grund zur Sorge, oder? Habe ich nicht endlich im Leben einmal etwas richtig gemacht?«
»Ja, schon«, erwidert sie nickend. »Natürlich hast du das, und offenbar hast du bei dem Typen wahre Wunder bewirkt. Ich wollte nie das Gegenteil andeuten …«
»Und was stört dich dann?«
»Nun«, antwortet sie und lässt den Wein am Grunde des Glases kreisen, »es ist nur, dass …«
»Was,
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