Der magische Pflug
Und sogar noch mehr: Im hellsten Teil der Flamme flackernd, oft vom Lärm der Gedanken und Wünsche verborgen, konnte sie die Wege schauen, die vor diesem Menschen lagen, die Entscheidungen, die auf ihn zukamen, das Leben, das er sich erschaffen würde, wenn er sich in den vor ihm liegenden Stunden und Tagen für das eine, das andere oder ein drittes entschied.
Peggy konnte in den Herzensfeuern anderer Menschen so viel sehen, daß sie mit ihrem eigenen kaum vertraut war.
Manchmal glaubte sie, wie der einsame Junge im Ausguck hoch oben auf einem Schiffsmast zu sein. Nicht, daß sie jemals im Leben ein Schiff zu sehen bekommen hätte, abgesehen von den Flößen auf dem Hio und einmal jenes Kanalboot auf dem Irrakwa-Kanal. Doch sie hatte sämtliche Bücher gelesen, die ihr Doktor Whitley Physicker von seinen Besuchen in Dekane mitbrachte. Aus einem dieser Bücher kannte sie den Jungen im Ausguck am Mast. An das Tauwerk geklammert, die Arme halb in den Leinen verschlungen, damit er nicht bei einem plötzlichen Schlingern des Schiffs oder einem unerwarteten Windstoß in die Tiefe stürzte; blaugefroren im Winter, rotverbrannt im Sommer; und den ganzen Tag über nichts anderes tun, als auf den leeren blauen Ozean hinauszublicken – all die langen, langen Stunden seiner Wache. War es ein Piratenschiff, so hielt der Junge Ausschau nach den Segeln von Opfern. War es ein Walfänger, hielt er Ausschau nach Wasserfontänen und Brechern. Auf den meisten Schiffen suchte er nur nach Land, nach Riffen, nach verborgenen Sandbänken, hielt er Ausschau nach Piraten oder irgendeinem erklärten Feind der Flagge seines Volkes.
Die allermeisten Tage bekam er nichts zu sehen, überhaupt nichts, immer nur Wogen und in die Tiefe stürzende Seevögel und flauschige Wolken.
Ich befinde mich auf einem Ausguckposten, dachte Peggy. Vor etwa sechzehn Jahren hinaufgeschickt, als ich geboren wurde, und seitdem immer dort oben, wurde niemals heruntergelassen, habe niemals die Erlaubnis bekommen, mich auch einmal in der schmalen Koje des untersten Decks auszuruhen, nicht einmal die Luke über meinem Kopf oder eine Tür hinter meinem Rücken zu schließen. Immer, immer halte ich Wache, schaue in die Ferne und in die nähere Umgebung. Und weil es nicht meine körperlichen Augen sind, durch die ich schaue, kann ich sie nicht schließen, nicht einmal im Schlaf.
Es gab kein Entkommen. Hier oben in der Dachkammer sitzend, konnte sie sehen:
Mutter, die die anderen als Old Peg Guester kannten und die sich selbst Margaret nannte, wie sie in der Küche stand und für die Schar der Gäste kochte, die zu einem ihrer Mittagessen erwartet wurden. Nicht, daß sie irgendein besonderes Talent zum Kochen besessen hätte; ihr fiel die Küchenarbeit sogar schwer. Sie war nicht wie Gertie Smith, die Gepökeltes auf hundert verschiedene Arten zubereiten konnte, daß es jedesmal anders schmeckte. Peg Guesters Talente waren Hebammentum und Hauszauber, aber da ein gutes Gasthaus auch gute Speisen anbieten mußte und Altpapi inzwischen nicht mehr da war, mußte sie eben kochen. Und darum dachte sie nur noch an die Küche und ertrug keinerlei Ablenkung, schon gar nicht von ihrer Tochter, die schmollend im Haus herumlief und den ganzen Tag kaum etwas sagte. Peg Guester schien dieses Mädchen das unangenehmste und unglücklichste Kind zu sein, obwohl es doch einmal so lieblich gewesen war, so vielverheißend mit ihm begonnen hatte. Nun ja, irgendwie wurde doch alles früher oder später sauer …
Ach, welch eine Freude zu wissen, wie wenig die eigene Mama für einen übrig hatte. Da spielte es keine Rolle, daß Peggy auch die innige Zuneigung ihrer Mama zu ihr kannte. Zu wissen, daß im innersten Herzen der Mama ein Stück Liebe wohnte, nahm dem Wissen um ihre Abneigung nicht den Stachel.
Und dann Papa, den anderen als Horace Guester bekannt, der Wirt des Hatrack River-Gasthofs. Ein munterer Bursche war Papa, der jetzt gerade auf dem Vorhof stand und einem Gast Geschichten erzählte, der dadurch Schwierigkeiten hatte, sich vom Hof loszureißen. Er und Papa schienen immer neue Themen zu finden, über die sie sich unterhalten konnten, und ach, dieser Gast, ein Rechtsanwalt, der von Cleveland heruntergekommen war, der war der Meinung, mit Horace Guester den wohl prachtvollsten, aufrechtesten Bürger vor sich zu haben, dem er je begegnet war, und wenn alle Leute so gutherzig wären wie der alte Horace, dann würde es im oberen Hio-Gebiet keine Verbrechen und keine
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