Der magische Pflug
Papiere gesehen – aber wenn er diese Papiere hätte lesen wollen, dann hätte er erst die Tinte erspüren müssen, um ihr dann zu folgen, bis er im Geiste die Buchstaben hätte nachformen können. Das ging nur sehr langsam. Nein, es war überhaupt nicht wie normales Sehen.
Jedenfalls schickte er seinen Funken aus, um diese hochgestochene Dame zu ›sehen‹, die er nicht geradeheraus mustern durfte. Und was er dort entdeckte, überraschte ihn. Denn sie war genauso mit Zaubern bestückt wie Mike Fink.
Nein, noch mehr als das. Sie war praktisch in Zauber getränkt, von Amuletten, die an ihrem Hals hingen, bis hin zu Zauberzeichen, die in ihre Kleider eingestickt waren; ja, sogar im Haarknoten trug sie einen Drahtzauber. Nur einer davon war zum Schutz, und der war nicht halb so kräftig, wie der von Mike Fink es gewesen war. Die anderen waren alle – ja, wofür eigentlich? Alvin hatte noch nie eine solche Arbeit gesehen, und es bedurfte einigen Denkens und Forschens, um festzustellen, was diese Zaubergespinste, die sie umhüllten, bewirkten. Alles, was er jetzt herausbekam, wie er den Wagen lenkte und die Augen auf den vor ihm liegenden Weg gerichtet hielt, war, daß diese Zauber irgendeine mächtige Betörung zum Ziel hatten, daß sie die Frau wie etwas aussehen ließen, was sie nicht war.
Sein erster Gedanke war natürlich, herauszubekommen, wer sie unter dieser Tarnung wirklich war. Die Kleider, die sie trug, waren echt – der Zauber veränderte nur den Klang ihrer Stimme sowie Farbe und Struktur ihrer Haut-Oberfläche. Doch Alvin hatte wenig Erfahrung mit Betörungen und schon gar keine mit solchen, die aus Zaubern zusammengewoben waren. Die meisten Leute führten eine Betörung mit einem Wort und einer Geste durch, verbunden mit einer Zeichnung dessen, als was sie zu erscheinen wünschten. So etwas beeinflußte den Geist anderer Menschen, und wenn man es erst einmal durchschaut hatte, konnte es einen nicht mehr narren. Da Alvin so etwas stets durchschaute, hatten solche Betörungen keine Macht über ihn.
Doch ihre war anders. Der Zauber veränderte die Art, wie das Licht sie traf und von ihr gebrochen wurde, so daß man nicht genarrt wurde, zu glauben, man würde etwas sehen, das gar nicht da war. Statt dessen sah man sie tatsächlich anders; das Licht traf auf diese Weise das Auge auf völlig andere Art. Da es kein Eingriff in Alvins Geist war, nutzte es ihm auch nicht viel, den Zauber zu durchschauen. Und mit Hilfe seines Funkens fand er auch nicht sonderlich viel darüber heraus, was hinter den Zaubern stand, nur daß sie nicht ganz so faltig und knochig war, wie sie aussah, woraus er schloß, daß sie möglicherweise jünger sein mochte.
Erst nachdem er es aufgegeben hatte, zu erraten, was sich hinter der Verkleidung verbarg, kam er auf die eigentlich wichtige Frage: Wenn eine Frau die Macht hat, sich selbst zu verkleiden und so auszusehen, wie sie wollte, warum wählte sie dann ausgerechnet dieses Aussehen? Kalt, streng, alternd, knochig, humorlos, verkniffen, verärgert, distanziert. Alles, wovon eine Frau normalerweise hoffte, daß sie es nicht sei, wollte diese Lehrerin ausstrahlen.
Vielleicht war es ja ein entlaufener Gefangener, der sich getarnt hatte. Doch unter den Zaubern war sie ganz eindeutig eine Frau, und Alvin hatte noch nie von einer Verbrecherin gehört. Das konnte es also nicht sein. Vielleicht war sie auch einfach nur jung und dachte, daß andere Leute sie nicht ernst nehmen würden, wenn sie nicht älter aussah. Das hätte Alvin verstanden. Möglicherweise war sie aber auch sehr hübsch, und die Männer kamen bei ihr immer auf die falschen Gedanken – Alvin versuchte sich auszumalen, was diese Flußratten erst angestellt hätten, wenn sie wirklich schön gewesen wäre. Aber dann wären die wahrscheinlich sogar so höflich geblieben, wie sie nur konnten; denn sie waren nur dazu in der Lage, häßliche Frauen zu ärgern, weil die sie wahrscheinlich an ihre Mütter erinnerten. Also war ihr unscheinbares Aussehen nicht unbedingt ein Schutz. Und es diente auch nicht dazu, irgendeine Narbe zu verbergen, denn Alvin sah, daß ihre Haut weder Pockennarben aufwies noch andere Entstellungen.
In Wahrheit konnte er nicht erraten, weshalb sie sich unter einem solchen Lügenpanzer verbarg. Sie hätte irgendwas oder irgendwer sein können. Er konnte sie nicht einmal danach fragen, denn damit hätte er seine Gabe preisgegeben, und wie hätte er wissen sollen, ob er ihr ein solches Geheimnis
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