Der magische Pflug
anvertrauen durfte, da er ja noch nicht einmal wußte, wer sie in Wirklichkeit war, oder warum sie es vorzog, in einem Lügengebäude zu leben?
Er fragte sich, ob er jemand anderem davon erzählen sollte. Sollte das Schuldirektorium, bevor es die Kinder der Stadt ihrer Obhut überantwortete, nicht davon erfahren, daß sie nicht das war, was sie zu sein vorgab? Doch denen durfte er es auch nicht erzählen, sonst hätte er sich offenbart; und außerdem war ihr Geheimnis ja vielleicht auch ihre Sache und schadete niemanden. Wenn er dann aber die Wahrheit über sie erzählte, würde es sowohl ihm als auch ihr schaden, ohne daß es jemanden nützte.
Nein, da war es besser, sie zu beobachten, ganz sorgfältig, um sie auf die einzige Weise kennenzulernen, auf die man Menschen wirklich kennenlernen konnte: indem man zusah, was sie taten. Das war der beste Plan, der Alvin einfiel. Aber wie hätte er auch jetzt noch, da er schon wußte, daß sie ein solches Geheimnis hatte, darauf verzichten können, ihr seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen? Seinen Funken auszusenden, um seine Umwelt zu erforschen, war ihm schon so zur Gewohnheit geworden, daß er sich hätte anstrengen müssen, es nicht zu tun, vor allem, wenn sie im Bachhaus leben sollte. Er hoffte beinahe, daß sie es nicht tun würde, damit dieses Geheimnis ihm nicht so viel zu schaffen machte; ebensosehr hoffte er aber doch darauf, damit er sie beobachten und sich davon überzeugen konnte, daß sie ein anständiger Mensch war.
Und noch besser könnte ich sie beobachten, wenn ich bei ihr lernte. Ich könnte sie mit ihren eigenen Augen beobachten, könnte ihr Fragen stellen, ihre Antworten anhören und beurteilen, was für eine Art Mensch sie ist. Wenn sie mich lange genug unterrichtet, vertraut sie mir möglicherweise, und ich ihr, und dann könnte ich ihr sagen, daß ich ein Macher werden soll, und sie könnte mir ihre größten Geheimnisse anvertrauen, und dann könnten wir einander helfen, dann wären wir wahre Freunde, so, wie ich noch nie wahre Freunde gehabt habe, seit ich meinen Bruder Measure in Vigor Church zurückließ.
Er trieb das Pferd nicht allzu sehr an, weil der Wagen ja so schwer war, mit all ihrem Gepäck und dem Eisen – und mit ihr selbst ja auch noch an Bord. So waren sie trotz ihres Gesprächs und des langen Schweigens, das darauf folgte, während er herauszufinden versuchte, wer sie wirklich war, erst eine halbe Meile von Hatrack Mouth entfernt, als ihnen Dr. Physickers prachtvolle Kutsche entgegenkam. Alvin erkannte die Kutsche sofort und begrüßte Po Doggly, der sie lenkte, mit einem Ruf. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Lehrerin und ihre Sachen vom Wagen in die Kutsche verfrachtet worden waren. Po und Alvin schleppten das ganze Gepäck – Dr. Physicker verwendete alle seine Anstrengungen darauf, der Lehrerin in die Kutsche zu helfen. Noch nie hatte Alvin den Doktor sich derart elegant benehmen sehen.
»Es tut mir schrecklich leid, daß ich Euch die unbequeme Fahrt in diesem Wagen dort zugemutet habe«, sagte der Arzt. »Ich wußte nicht, daß ich mich schon so sehr verspätet hatte.«
»Tatsächlich seid Ihr noch zu früh dran«, erwiderte sie. Und dann wandte sie sich huldvoll zu Alvin und fügte hinzu: »Und die Fahrt mit dem Wagen war überraschend angenehm.«
Da Alvin den größten Teil der Fahrt nichts gesagt hatte, wußte er nicht genau, ob sie es als Kompliment meinte, weil er eine so angenehme Gesellschaft war, oder ob es ihre Dankbarkeit dafür ausdrücken sollte, daß er den Mund gehalten hatte. So oder so wurde er jedenfalls rot, und das nicht aus Zorn.
Als Dr. Physicker in die Kutsche stieg, fragte die Lehrerin ihn: »Wie heißt dieser junge Mann?«
Da sie den Doktor angesprochen hatte, antwortete Alvin nicht.
»Alvin«, erwiderte der Doktor und nahm Platz. »Er ist hier geboren. Er ist Lehrling beim Schmied.«
»Alvin«, sagte sie und wandte sich ihm durch das Kutschenfenster wieder zu. »Ich danke Euch für Eure Galanterie, und ich hoffe, Ihr verzeiht mir meine anfänglich so unfreundliche Reaktion. Ich hatte das schurkische Wesen unserer unwillkommenen Begleiter unterschätzt.«
Ihre Worte klangen so elegant, daß es wie Musik war, obwohl Alvin nur halb erriet, was sie da sagte. Doch ihre Miene war so freundlich und gütig, wie sie es mit ihrem abweisenden Gesichtsausdruck nur fertigbringen konnte. Er fragte sich, wie ihr wirkliches Gesicht wohl aussehen mochte.
»Es war mir ein Vergnügen, Ma'am«, sagte er.
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