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Der magische Pflug

Der magische Pflug

Titel: Der magische Pflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Kardinalvogels Gesang war nicht für ihn bestimmt. Das Sprichwort stimmte: Kein Mädchen bekommt alle Freier, und kein Junge bekommt alle Gaben ab. Alvin konnte bereits vieles, und vor ihm lag noch vieles, was er lernen konnte, aber es gab noch sehr viel mehr, was jenseits seiner Fähigkeiten lag, und Kardinalvogels Gesang gehörte dazu.
    Und doch war sich Alvin völlig sicher, daß Kardinalvogel nicht zufällig hier war. Wenn er nach seiner ersten unmittelbaren Begegnung mit dem Entmacher hier erschien, mußte Kardinalvogel irgendein Ziel verfolgen. Er, Alvin, mußte irgendeine Antwort aus Kardinalvogels Gesang heraushören.
    Alvin wollte gerade sprechen, wollte gerade die Frage stellen, die in ihm brannte, seit er das erste Mal erfahren hatte, was seine Bestimmung sein könnte. Doch es war nicht seine Stimme, die Kardinalvogels Gesang unterbrach. Es war Arthur Stuart.
    »Ich weiß nicht um die Tage, die da kommen«, sagte der Mischlingsjunge. Seine Stimme klang wie Musik, und die Worte waren klarer als alle, die Alvin den Dreijährigen jemals hatte sagen hören. »Ich kenne nur die Tage, die da vergangen sind.«
    Es dauerte eine Sekunde, bis Alvin begriffen hatte, was hier los war. Arthur sprach die Antwort auf Alvins Frage aus. Werde ich jemals ein Macher werden, wie das Fackelmädchen behauptet hat? Das war es, was Alvin hatte fragen wollen, und Arthurs Worte waren die Antwort.
    Aber das war nicht Arthur Stuarts eigene Antwort, soviel war klar. Der kleine Junge verstand ebensowenig, was er da sagte, wie gestern nacht, als er Makepeaces und Gerties Streit nachgeäfft hatte. Er gab nur Kardinalvogels Antwort wieder. Er übersetzte den Gesang des Vogels in eine Sprache, die Alvins Ohren verstehen konnten.
    Alvin wußte nun, daß er die falsche Frage gestellt hatte. Er brauchte Kardinalvogel nicht, um ihm zu sagen, daß er ein Macher werden sollte – das wußte er ohnehin schon seit Jahren, und zwar allen Zweifeln zum Trotz. Die wirkliche Frage lautete nicht ob, sondern wie er ein Macher werden konnte.
    Sag es mir jetzt.
    Kardinalvogel verwandelte seinen Gesang in eine sanfte und schlichte Melodie, die schon eher wie normaler Vogelgesang klang, ganz anders als die tausendjährige Geschichte des roten Mannes, die er bisher gesungen hatte. Alvin verstand ihn zwar nicht, wußte aber dennoch, worum es ging. Es war der Gesang des Machens. Immer und immer wieder ertönte die gleiche Melodie, immer nur kleine Ausschnitte daraus – die aber waren blendend in ihrer Helligkeit; es war ein Gesang, der so wahrhaftig war, daß Alvin ihn mit den Augen sehen konnte; er spürte ihn von den Lippen bis zu den Lenden, schmeckte und roch ihn. Es war der Gesang des Machens, und es war sein eigener Gesang. Das erkannte er daran, wie süß er ihm auf der Zunge schmeckte.
    Und als der Gesang seinen Gipfel erreicht hatte, ergriff Arthur Stuart wieder das Wort, mit einer Stimme, die kaum menschlich klang, so schrill flötete sie, so klar sang sie.
    »Der Macher ist jener, der Teil dessen ist, was er macht«, sagte der Mischlingsjunge.
    Alvin schrieb sich die Worte in sein Herz, auch wenn er sie nicht verstand. Denn er wußte, daß er sie eines Tages verstehen würde, und wenn er das tat, dann würde er die Macht der alten Macher besitzen, die die Kristallstadt erbauten. Er würde verstehen und seine Macht anwenden und die Kristallstadt finden – und sie einmal mehr erbauen.
    Der Macher ist jener, der Teil dessen ist, was er macht.
    Kardinalvogel verstummte. Still stand er da, den Kopf schräg gelegt; und dann war er nicht mehr Kardinalvogel, sondern ein ganz gewöhnlicher Vogel mit roten Federn. Und flog davon.
    Arthur Stuart sah dem Vogel nach. Dann rief er ihm mit seiner echten Kinderstimme zu: »Vogel! Flieg, Vogel!« Alvin kniete neben dem Jungen nieder, schwach von der nächtlichen Arbeit, von der Angst im Morgengrauen, vom Vogelgesang dieses hellen Tages.
    »Ich fliegte«, sagte Arthur Stuart. Zum ersten Mal schien er Alvin zu bemerken und drehte sich zu ihm um.
    »Hast du das?« flüsterte Alvin, der zögerte, den Traum des Kindes zu zerstören, indem er ihm sagte, daß Menschen nicht fliegen könnten.
    »Große Amsel mich mitgenommen«, sagte Arthur. »Fliegen und fliegen.« Dann griff er mit seinen Händen nach oben und drückte sie gegen Alvins Wangen. »Macher«, sagte er. Dann lachte und lachte er vor Freude.
    Arthur war also nicht nur ein Nachäffer. Er verstand Kardinalvogels Gesang wirklich, zumindest einen Teil davon.

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