Der magische Reif
Boden unter den Füßen, ihre Maske bekam erste Risse. Ihre feindselige Haltung verschwand und sie wurde mindestens so rot wie die Rosen, die sie gerade beschnitten hatte. Nervös zerknautschte sie ihre karierte Schürze.
»Sagen Sie doch endlich, was Sie wollen?«, stammelte sie.
»Ihnen helfen, Ihr Gewissen zu beruhigen, Miss MacPie. Aber dazu müssen Sie mir den Armreif zurückgeben. Ich werde ihn Mrs Faulkner zukommen lassen und ich versichere Ihnen, dass sie nie erfahren wird, wer ihn genommen hatte. Und Sie wird es von einer unangenehmen Last befreien . . .«
Samuel war sich seiner Strategie zwar nicht ganz sicher, aber eine andere hatte er ohnehin nicht. Es sei denn, er hätte es auf die harte Tour versucht wie Rudolf, aber das war ganz und gar nicht sein Stil.
Miss MacPie zögerte einen Moment und sah sich unsicher um, ob jemand aus den umliegenden Häusern sie durchs Fenster beobachtete. Dann lud sie ihren seltsamen Besuch ein, ihr ins Haus zu folgen, wobei sie unverständliche Dinge vor sich hin murmelte. Samuel folgte ihr bis in ein völlig überladenes Wohnzimmer: zu viele Sessel, zu viele Standuhren, zu viele kleine Katzenfiguren auf zu vielen Buffets, zu viele gelbe und braune Blumen auf einer zu erdrückenden Tapete . . . Als wären vollgestopfte Räume ein Mittel gegen die Einsamkeit.
»Ich . .. ich habe ihn mir nur ausgeliehen«, erklärte sie zu ihm gewandt. »Ich wollte ihn zurückgeben, ja, natürlich hätte ich ihn zurückgegeben! Ich wollte ihn nur kurz bei mir haben, das ist alles! Außerdem scheint er ihr sowieso nicht zu gefallen, dieser Armreif, sie trägt ihn nie. Ich dachte auch, sie würde es gar nicht bemerken!«
Sam verkniff sich jeglichen Kommentar: Er wollte nicht riskieren, sich alles zu verscherzen, jetzt, wo die Sache so gut lief. Außerdem tat ihm Miss MacPie mit ihrer violett schimmernden Wasserwelle, dem vom Alter gezeichneten Gesicht und ihrem Gehabe eines ertappten Schulmädchens eher leid.
»Ich mag sie gern, diese Faulkners«, fuhr sie fort. »Das ist es nicht. Außerdem ist es das erste Mal, dass mir so etwas passiert, das schwöre ich Ihnen! Und seitdem beschäftigt es mich, ja. Das ist wahr. Man muss schon sagen, er hat etwas, dieser Armreif . . .«, seufzte sie.
Am Fuß der Treppe hielt sie inne.
»Aber was beweist mir, dass Sie ihn auch wirklich zurückgeben? Dass Sie nicht damit abhauen?«
»Dieser Armreif gehört den Faulkners«, erwiderte Sam fest, »und zu ihnen muss er auch wieder zurück. Und wenn Sie wissen wollen, ob ich versuche, Sie zu täuschen . . . Ich habe Ihnen eben doch gezeigt, dass ich die Wahrheit sage, nicht wahr? Über die Klinik und das Schmuckstück. Und Sie wären erstaunt, was ich Ihnen sonst noch über die Faulkners und über Sie erzählen könnte. Einzelheiten, die eigentlich niemand auf der Welt wissen kann. Betrachten Sie mich als eine Art gute Fee, Tiffany. Eine Fee, die sich zur Aufgabe gemacht hat, Dinge wieder ins Reine zu bringen . . . Immerhin kann doch jeder irgendwann mal einen Fehler machen, oder nicht?«
Die alte Dame sah ihn einen Moment lang forschend an, dann murmelte sie etwas Undeutliches wie »verfluchter Armreif!« und stieg die Treppe hinauf. Oben angekommen führte sie Sam in ein kleines Büro mit einer verblichenen Aquarell-Tapete und machte sich daran, die Schreibtischschublade aufzuschließen. »Und Sie versprechen, niemandem zu sagen, dass ich es war?«
Samuel nickte.
»Wenn ich Sie hätte anzeigen wollen, Miss MacPie, hätte ich nur die Polizei zu rufen brauchen. Aber wie ich schon sagte, ich möchte die Sache diskret regeln.«
Die alte Dame schien beruhigt. Sie griff in die Schublade und zog einen kleinen blauen Samtbeutel hervor. Sie löste das Band und ließ den Inhalt langsam, sehr langsam herausrutschen. Der Goldreif schimmerte in ihrer Hand und ein leichtes Frösteln schien sie zu durchfahren.
»Er ist doch wunderschön«, seufzte sie.
Samuel machte einen Schritt nach vorn, magisch angezogen von der Eleganz und Reinheit des Goldreifs. Aus dieser Entfernung sah er Merwosers Armreif sehr ähnlich, auch wenn er etwas undefinierbar Feineres an sich hatte, als wäre er durch eine noch ehrwürdigere Anzahl von Jahrhunderten geschliffen worden. Er glänzte jedoch weniger als seine Kopie und schien, trotz seiner schönen Goldfarbe, nicht wie der andere von innen heraus zu leuchten.
Samuel trat unter dem betrübten Blick der alten Dame noch näher heran.
»Ich ahne, was in Ihnen vorgeht«, sagte er
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