Der magische Reif
schnitt, weiter bis zur Straßenecke und an seinem Haus — seinem früheren Haus – entlang, als ob nichts wäre. Auch hier schien alles ruhig. Es versetzte ihm einen kleinen Stich ins Herz, als er sein Dartspiel an der Wand hängen sah und den kleinen Teaktisch, an dem seine Eltern immer ihren Kaffee tranken. Sofort stürmten weitere Bilder auf ihn ein, wie das letzte Mittagessen, als sie alle drei gegrillt hatten und Allan verkündet hatte, er müsste für zwei Tage zu Konferenzen nach Toronto reisen. Doch Samuel bemühte sich sofort, die erneute Welle der Erinnerungen abzublocken: Er durfte sich nicht von einem Zuviel an Gefühlen überwältigen lassen.
Er fuhr ein zweites Mal am Haus seiner Eltern vorbei, um sicherzugehen, dass in den geparkten Autos auch wirklich niemand saß, bevor er erleichtert – kein Rudolf in Sicht -vom Fahrrad stieg. Er lehnte es an den blauen Briefkasten mit der Aufschrift Elisa, Allan und Samuel Faulkner und überquerte die gepflasterte Zufahrt, während er sich die stechende Seite massierte: Seit er Skateboard fuhr, war er ans Fahrradfahren wirklich nicht mehr gewöhnt . . . Die Eingangstür war verschlossen, ebenso wie die Garage, und von drinnen war kein verdächtiges Geräusch zu hören, sosehr er auch lauschte. Anscheinend war seine Mutter noch nicht zurückgekehrt.
Kurz durchzuckte ihn der Gedanke, ins Haus einzubrechen – indem er eine Fensterscheibe einschlug zum Beispiel -, doch alle Zugänge waren über die Alarmanlage gesichert, und er hatte keine Lust darauf, von der Polizei wegen Einbruchs geschnappt zu werden. Das Beste war immer noch zu warten, bis Elisas Wagen in die Auffahrt rollte. Oder vielleicht . . . vielleicht könnte er die Zeit nutzen, um sich den zweiten Goldreif wiederzuholen, wie er es seinem Vater versprochen hatte. Immerhin war Miss MacPie der Familie Faulkner noch einiges schuldig, oder nicht?
»Hallo, Miss MacPie«, rief Samuel.
Die alte Dame, die über ihre Rosensträucher gebeugt war, richtete sich auf und machte einen Schritt nach hinten.
»Sie haben mich erschreckt, junger Mann«, schimpfte sie. »Was wollen Sie?«
Samuel sah ihr direkt in die Augen, ohne zu antworten. Wenn man sich vorstellte, dass sie noch am selben Morgen in die Klinik gekommen war und die aufmerksame Nachbarin gespielt hatte, obwohl sie erst drei Tage vorher Elisa und Allans Vertrauen missbraucht und ihnen den Goldreif gestohlen hatte!
»Und wer sind Sie überhaupt?«, fragte sie mit einem misstrauischen Blick auf sein Gewand. »Wenn es um eine Spende geht oder so was, von mir bekommen Sie nichts.«
»Wenn ich Ihnen erkläre, wer ich bin, wird Ihnen das sicher nicht gefallen. Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, etwas wiedergutzumachen . . .«
»Gehören Sie zu einer Sekte oder was?« Miss MacPie wurde zunehmend lauter. »Es interessiert mich nicht die Bohne, was Sie zu verkaufen haben! Verlassen Sie meinen Garten! Auf der Stelle!« »Ich glaube nicht, dass Sie eine echte Diebin sind«, fuhr Sam seelenruhig fort. »Ich denke, Sie haben eher aus einer Laune heraus gehandelt. Als Sie den Armreif an Mrs Faulkners Handgelenk sahen, konnten Sie sich einfach nicht beherrschen, Sie mussten ihn unbedingt haben. Nur möchte Mrs Faulkner ihn heute leider zurückhaben.«
»Was reden Sie da?« Ihr versagte die Stimme.
Dann machte sie einen Schritt nach hinten und fuchtelte mit ihrer Rosenschere unter seiner Nase herum.
»Entweder Sie verschwinden sofort oder ich rufe die Polizei!«
»Gute Idee«, gab Sam zurück. »Dann könnte ich denen gleich erzählen, was Sie so treiben, wenn man Ihnen seine Kinder anvertraut. Nach hübschem Schmuck zu suchen, zum Beispiel . . .«
>Die Elster, wie Allan sie immer nannte, war sichtlich getroffen. Sie öffnete schon den Mund, um zu protestieren, doch dann schien sie einzusehen, dass es nicht in ihrem Interesse sein konnte, das ganze Viertel zu alarmieren.
»Wer sind Sie?«, wiederholte sie jetzt etwas leiser.
»Ich war heute Morgen in der Klinik«, fuhr Sam fort. »Sie trugen ein hübsches grünes Kleid mit breitem Kragen. Sie sagten zu Mrs Faulkner, dass ihre Bluse ihr hervorragend stände und dass Sie sich nach der Operation um ihren Sohn kümmern würden, wenn sie es wünschte. Eine Bilderbuchnachbarin, nicht wahr? Uneigennützig, hilfsbereit.. . Allerdings haben Sie die Hälfte der Pralinen, die Sie mitgebracht hatten, selbst verschlungen, das gehört sich eigentlich nicht.«
Das Fräulein verlor sichtlich den
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