Der magische Reif
er schließlich das Haus des alten Max erreichte, wo er das Gartentor aufdrückte. Bingo! Das Fahrrad war wie so oft an einen der Bäume in dem kleinen Vorgarten gekettet. Er inspizierte das Schloss, das durchs Hinterrad lief: Das Modell kannte er bereits. Er drehte das Zahlenschloss auf 1937 und der kleine Metallbügel sprang auf.
»Tut mir leid, Max«, murmelte er. »Es ist für einen guten Zweck.«
Dann schwang er sich aufs Rad und sauste los. Er kam sich vor wie ein Fisch, der auf dem Grund einer versunkenen Stadt zum Sprint ansetzt. Tatsächlich sah die Stadt aus, als wäre sie in grünen Wassermassen ertrunken, die Sam bei jedem Tritt mit seinen Pedalen aufwirbelte, während in regelmäßigen Abständen kleine Luftbläschen aus seinem Mund aufstiegen. Unglaublich . . . Doch er ließ sich davon nicht beirren und sobald er in sicherer Entfernung von Martha Calloway und ihrer wütenden Meute war, hielt er an, um die Zeit wieder in ihren normalen Lauf zurückfinden zu lassen. Er schloss die Augen, verringerte den Druck auf sein Herz und wartete, bis ein Klacken die Luft zerriss. Als er sich umsah, hatte Saint Mary wie durch Zauberhand wieder das vertraute Aussehen angenommen: die Häuser mit den hübschen Fensterläden, die leuchtenden Blumenbeete, die Kinder auf der Schaukel . . . Die Sonne strahlte hoch vom Himmel und es war angenehm warm. Typische Julitemperaturen, redete er sich ein.
Die Bestätigung, dass er nicht nur am richtigen Ort, sondern tatsächlich auch zur richtigen Zeit gelandet war, bekam er etwas später: Er fuhr an einer Apotheke vorbei, in deren Schaufenster eine Digitalanzeige mit verschiedenen Informationen ablief, unter anderem auch Datum und Uhrzeit: 11. Juli, 15:12 Uhr . .. Genau in dem Zeitrahmen, den er sich gesteckt hatte!
Beflügelt von dieser guten Neuigkeit, trat Sam doppelt so fest in die Pedale, bis er Seitenstechen bekam. Er würde seine Mutter wiedertreffen, es konnte sich nur um Minuten handeln! Sie musste zu dieser Zeit irgendwo in der Stadt sein und . . . Ja, er sah die Szene so genau vor sich wie schon lange nicht mehr. Als sie ihn zum Operationssaal brachten, hatte Elisa ihm versprochen nach Hause zu fahren, um seinen Lieblingsschlafanzug -den mit dem Supermann-Logo – zu holen. Bei der Gelegenheit wollte sie auch im Einkaufszentrum vorbeifahren und ihm seine Lieblingszeitschriften und ein paar Leckereien kaufen. Sam fühlte wieder ihren sanften Kuss auf seiner Wange, als sie ihm noch einmal Mut zugesprochen hatte: >Du wirst das Gefühl haben, dass du einschläfst, mein Sam, und wenn du wieder wach wirst, ist alles schon vorbei.. .< Zum ersten Mal erinnerte er sich auch wieder an das Quietschen des Krankenhausbettes, als sie auf den Fahrstuhl zurollten, und die Worte des Pflegers, der ihn schob – >Im OP wird es ein bisschen Wartezeit geben, aber keine Angst, man wird sich gut um dich kümmern< -, und das Klacken einer Tür zu seiner Linken . . . Niemals zuvor hatte er sich so deutlich an diese Bilder und Geräusche erinnert! Er hatte sich überhaupt noch nie an sie erinnert!
Und noch andere Erinnerungen überschlugen sich in seinem Kopf: der bittere Geschmack eines Beruhigungsmittels, das eine blonde Krankenschwester ihm verabreicht hatte und das ihn schon halb einschlafen ließ; die fünf Zeichentrickfilme, die er alle hintereinander gucken durfte; der Besuch von Miss MacPie etwas früher an dem Morgen – sie hatte eine Schachtel Pralinen mitgebracht und sofort das goldene Papier abgewickelt, um sie zu probieren -und noch so viele andere Dinge! Verrückt, all diese Einzelheiten vor sich zu sehen, als ob er all die Ereignisse live nach erlebte!
Nach einer Viertelstunde erreichte Sam endlich den Fuß des Hügels, von wo aus die Straße hinauf nach Bel Air führte. Sein Seitenstechen wurde immer schlimmer und zwang ihn, langsamer zu treten. Verbissen schraubte er sich durch die vertrauten Kurven nach oben. Endlich kam er in der von Ahornbäumen gesäumten breiten Straße am Anfang seines früheren Viertels an und atmete erleichtert auf: Alles sah aus wie immer. Die schönen weißen Häuser mit den Säulen blickten gelassen über die blühenden Rasenflächen, einige Fahrzeuge parkten ordnungsgemäß am Straßenrand und die Vögel in den Bäumen versuchten, sich mit ihrem fröhlichen Gezwitscher gegenseitig zu übertrumpfen. Nichts ließ das Drama erahnen, das sich bald abspielen würde . . .
Er fuhr vorbei an Nummer 18, wo Miss MacPie gerade im Garten ihre Rosen
Weitere Kostenlose Bücher