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Der magische Reif

Der magische Reif

Titel: Der magische Reif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Prévost
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drehte sie nach mehreren missglückten Anläufen nach oben und fing an, den Stoff zu bearbeiten, der seine Hände fesselte. Er spürte, wie das Gewebe zu reißen begann, doch Rudolf hatte seine Gelenke mehrfach umwickelt und mehrere Knoten gemacht. Besonders schnell würde es nicht gehen . . .
    Während er mit aller Kraft an seinen Fesseln schnitt und riss, blickte Sam sich in der Grabkammer um. Aufgrund seiner geometrischen Form und der in den Fels gehauenen Wände erinnerte es an ein antikes Wasserbecken, das wie im Märchen mit bernsteinfarbenem Wasser gefüllt war -übrigens eine ähnliche Farbe wie die des gläsernen Skarabäus. Die Fackel warf von oben seltsame bräunliche Lichtreflexe herunter und Rudolf sah aus wie eine in ihrer aggressiven Pose versteinerte Schattengestalt. Der Sockel des Sarkophags in der Mitte des Raumes war an einigen Stellen wie durchscheinend, sodass sich in einer Aushöhlung des darunterliegenden Felsgesteins undeutliche Formen abzuzeichnen schienen . . .
    »Da also!«, murmelte Sam, wobei ein paar Luftblasen aus seinem Mund aufstiegen.
    Es war genau wie im Grabhügel des Kaisers Qin, in der dunklen Grotte, wo er seinen ersten Sonnenstein behauen sollte! Der hatte auf den ersten Blick auch roh und unscheinbar ausgesehen, und sobald Sam die Zeit verlangsamt hatte, waren die vorgegebenen Linien und Formen zum Vorschein gekommen. So wie er auch jetzt auf dem Sockel des Sarkophags tief im Gestein die Konturen einer Sonne mit ihren verlängerten Strahlen erkannte . . .
    Samuel kniff die Augen zusammen, um die tief eingegrabene Zeichnung genauer zu erkennen. Gewisse ungewöhnliche Details, die er bis dahin nur gespeichert hatte, ohne sie jedoch zu verstehen, tauchten plötzlich bunt durcheinander gewürfelt aus seiner Erinnerung auf. Gleichzeitig schien der Satz, den Kaiser Qin ihm mit auf den Weg gegeben hatte, bevor er starb, eine ganz neue Bedeutung anzunehmen: »Die beiden Sonnen können nicht gleichzeitig scheinen . . .« Die beiden Sonnen! Natürlich! Das erklärte alles! Auf dem Sockel des Sarkophags gab es nicht nur einen, sondern zwei Sonnensteine! Zwei Sonnen! Und zwei Sonnen, die mit Sicherheit nicht gleichzeitig scheinen konnten, weil sie in verschiedenen Zeiten in Erscheinung traten! Das erklärte auch das Gefühl von Fremdsein, das Sam hatte, als er zu der Zeit in der Grabkammer angekommen war, als sein Vater bei den Ausgrabungen arbeitete . . . Damals war Sam in der Ecke mit den Grabbeigaben aufgewacht, obwohl sich der Sonnenstein in seiner Erinnerung – das heißt vor der Beisetzung Setnis -genau gegenüber befunden hatte, in dem Teil, der zur hinteren Ecke der Grabkammer wies. Es war ihm zwar schon damals merkwürdig vorgekommen, doch er hatte in dem Moment so viele andere Dinge im Kopf gehabt, dass er nicht weiter darauf geachtet hatte . . .
    Heute wurde alles klarer: Jedes Ende des Sockels beherbergte einen eigenen Sonnenstein, doch es war immer nur einer von beiden abwechselnd sichtbar. Vor Setnis Begräbnis war zum Beispiel nur der zugänglich, der auf den hinteren Teil der Kammer wies. Dort waren Rudolf und er auch angekommen . . . Nach der Bestattung jedoch hatte der Reisende keine andere Wahl als die zweite Sonne zu benutzen, die auf die Thot-Statue und die anderen Grabbeigaben zeigte. Und genau diese Sonne war es auch, die Sam jetzt mitten aus dem Felsen heraus durchscheinen sah . . .
    Wie war ein solches Wunder möglich geworden? Vielleicht durch einen Steinmetz, der nach Setnis Begräbnis einen der Steine verdeckt und den anderen herausgebracht hatte? Oder ein magischer Zaubertrick des Hohepriesters selbst, der seine eigene Grabkammer aufgesucht haben musste, da er ja den Ring dort versteckt hatte?
    Auf jeden Fall war Sam fest davon überzeugt, dass der Satz des Kaisers Qin eindeutig auf diese Grabkammer anspielte. Die beiden Sonnen können nicht gleichzeitig scheinen . . . Eine Art Code, der – sobald man ihn entschlüsselt hatte – zum erhabensten aller Schätze führen musste!
    Zwei dicke Tropfen rannen von seiner Stirn und Sam erkannte gleichzeitig, dass er schwitzte und dass der Schweiß nichts mit der Anstrengung zu tun hatte: Er verspürte eine erste Verkrampfung in seinem Brustkorb. Er riss mit aller Kraft an seinen Fesseln, doch die Leinenhose erwies sich als ungemein stabil. Niemals würde er es schaffen freizukommen, bevor er die Verlangsamung der Zeit würde aufgeben müssen . . .
    Er setzte sich einen Moment auf, damit der Schmerz etwas nachließ,

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