Der magische Reiter reiter1
Campus kam, desto ruhiger wurde es auf der Straße, weil die Gaststätten, die Badehäuser, Handwerksbuden und Besucher der Stadt zurückblieben. Prächtige Häuser drängten sich jetzt zu beiden Seiten der Straße eng aneinander. Sie waren alt und ähnelten mit ihren protzigen Säulen, die überhängende Dächer aus roten Lehmziegeln trugen, den Schulgebäuden. Spitze Winkel und Ecken warfen scharf umrissene Schatten an blasse Mauern. Reliefs verzierten die Eingänge. Über einer Tür erstrahlten der Gott und die Göttin im Sonnenlicht. Schmale, hohe Fenster waren wie leere Augenhöhlen von Schatten verdunkelt.
Die Schulgebäude hatten das Vorbild für die Häuser abgegeben, und tatsächlich waren sie auch weit älter. Die Stadt war um die Schule herum gewachsen, und der Name Selium bezog sich auf beides gleichermaßen.
Stevic ritt unter dem P’ehdroser Bogen hindurch, der den Eingang zum Campus bildete. Er bewunderte die schneckenartigen Verzierungen der Marmorfassade ebenso wie die übrigen Steinmetzarbeiten. Auf dem Schlussstein stand ein Wesen, halb Mensch, halb Elch, das in ein Horn blies. Seine Züge waren von Wind und Wetter glatt geschliffen und sein Leib wie der restliche Bogen von Flechten bedeckt.
Waren die P’ehdroser mythische Geschöpfe oder ein untergegangenes Volk? Das war, als frage man, ob der Gott Aeryc wirklich abends auf dem Halbmond ritt. Er konnte es nicht sehen, also wusste er auch nicht, ob es stimmte. Einst hatte er geglaubt, dass Selium auf all diese Fragen die Antwort bereithielt, doch die Jahre hatten ihn gelehrt, dass alle Antworten für Auslegungen offen waren. Wenn er glaubte, dass es die P’ehdroser gab, machte es das nicht zur Wahrheit?
Seine Finger strichen über die Inschriften auf der Innenseite
des Bogens, als er hindurchritt. Er konnte die alte sacoridische Schrift nicht lesen, erinnerte sich jedoch, dass die Worte ungefähr bedeuteten, dass Wissen Frieden bringe. Tatsächlich hatte die Schule sich mit dem optimistischen Ziel aus der Asche des Langen Krieges erhoben, durch Wissen allen Kriegen ein Ende zu bereiten. Ein hochtrabendes Ideal? Eigentlich nicht, wenn man bedachte, dass Sacoridien jahrhundertelang eine eher friedliche Nation gewesen war. Andere Länder, ehemals Mitglieder der Liga, die die finsteren Mächte von Mornhavon dem Schwarzen niedergerungen hatte, waren weniger friedliebend als Sacoridien, schickten aber noch immer Kinder zur Ausbildung hierher. Ein Zeichen der Hoffnung für künftige Generationen, das man nicht zu gering erachten sollte.
Bei den Ställen der Schule reichte Stevic einem Burschen die Zügel und warf ihm eine Kupfermünze zu.
»Vielen Dank, mein Lord«, sagte der Bursche erstaunt. Offenbar waren Trinkgelder hier nicht üblich.
»Ich bin kein Lord, Junge. Vergiss das nicht.«
»J-ja, mein … mein Herr!«
Stevic ging auf das Verwaltungsgebäude mit seiner goldenen Kuppel und der Marmorkolonnade zu, und sein königsblauer Mantel wehte hinter ihm her. Fast zwei Meter groß, war er ein eindrucksvoller Mann mit ausgeprägtem Kinn und breiten Schultern. Sein braunes, mit einigen wenigen silbernen Strähnen durchsetztes Haar fiel lang und offen herab.
Trotz seiner Seidenkleidung und der selbstsicheren Lässigkeit, die sich mit dem Wohlstand einstellt, war er keineswegs ein Weichling. Sein Körper war vom Verladen der Fracht fest und gestählt. Die meisten Kaufleute seines Ranges saßen in ihren Büros und zählten ihr Geld, doch nicht so Stevic. Er mutete seinen Männern und Frauen nichts zu, was er nicht
auch selbst getan hätte. Es war nicht ungewöhnlich, dass man ihn in den Werften sah, die Ärmel hochgekrempelt, wie er der Besatzung einer Kogge schwere Fässer zuwarf.
Es war auch nicht ungewöhnlich, dass man ihn mit »Lord« ansprach, denn seine Haltung und sein Auftreten, sein Selbstbewusstsein und seine auffällige Erscheinung waren die eines Edelmanns. Er wollte davon nichts wissen. Er war stolz auf seine einfache Herkunft, stolz auf die harte Arbeit, der er seinen Erfolg verdankte. In aller Regel verabscheute er den Adelsstand, und man hatte ihn schon mehr als einmal murmeln hören, dass ein Pferdehintern mehr Verstand besaß als ein Adliger.
Ein Goldring funkelte an Stevics Finger, als er das düstere Verwaltungsgebäude betrat. Er zeigte das Clansemblem und war das Gegenstück zu jenem, den seine geliebte Kariny einst getragen hatte. Bei ihrem Tod war er an Karigan weitergegeben worden. Immer wenn er seine Tochter
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