Der magische Reiter reiter1
wurde Geyer blass. »Sie ist nicht zu Hause? Ihr … Ihr habt sie noch nicht … gesehen?«
»Natürlich nicht. Ich sagte Euch doch … Was geht hier vor? Wo ist meine Tochter?«
Der Rektor murmelte etwas in sich hinein und blickte in seinem Büro umher, als sähe er es zum ersten Mal. Stevic hätte ihn am liebsten mit einer Schnur aus der Takelage seines Modellschiffs erdrosselt, weil er anscheinend nichts aus ihm herausbringen konnte. Geyer nahm all seinen Mut zusammen, brachte es jedoch nicht fertig, Stevic G’ladheon ins Gesicht zu sehen. »Sie ist davongelaufen. Ich war der Letzte, der sie gesehen hat.«
Stevic schlug mit der flachen Hand auf Geyers Schreibtisch. Papiere wirbelten auf, und das Modellschiff erbebte. Ein frisch angeleimter Mast kippte um und fiel klappernd auf die Schreibtischplatte.
»Meine Tochter wird vermisst?« Stevics Stimme wurde zu einem heiseren Knurren. »Das hätte ich von Selium nicht gedacht. « Er deutete mit einem zitternden Finger auf den Rektor. »Ich mache Euch für ihr Verschwinden verantwortlich. Ich verlange, sofort Kustos Fiori zu sehen.«
Geyer krümmte sich unbehaglich auf seinem Stuhl. »Der Kustos ist nicht …«
Stevic wartete das Ende des Satzes nicht ab. Er stieß die Doppeltür auf und stürmte aus Rektor Geyers Büro und suchte die Gänge nach dem Büro des Goldenen Kustos ab. Er riss Türen auf, erschreckte Verwaltungsbeamte und störte Klassen beim Unterricht. Er stieß Kanzlisten beiseite, wenn
sie ihm in die Quere kamen. Aufschreie und Flüche folgten seinem Weg.
Als er schon glaubte, jedes Büro gesehen zu haben, fand er einen weiteren Gang, der von einem der Hauptflure abging. Er stürmte den schlecht beleuchteten Gang entlang, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Die Kerzen in den Halterungen an der Wand flackerten, als er vorbeirauschte. Der dichte rote Filz verschwand, und an seine Stelle traten zerkratzte und vernarbte Bodenbretter. Schließlich gelangte er an eine Tür, die das schlichte Symbol einer goldenen Harfe schmückte. Er öffnete sie und trat ein.
Das Büro war ein Durcheinander von Musikinstrumenten. Sie hingen an den Wänden, lagen in Regalen und lehnten in Ecken. Manche waren auseinandergenommen oder hatten gerissene Saiten. Zahllose Bücher stapelten sich auf dem Boden – in den Regalen war kein Platz mehr für sie. Eine dicke Staubschicht bedeckte alles, und der schwere Geruch von Harz hing in der Luft.
»Ist dies das Büro des Goldenen Kustos?«, fragte Stevic ungläubig.
»In der Tat, das ist es.«
Hinter dem einfachen Kiefernholzschreibtisch in der Mitte des Zimmers saß ein Mädchen in indigofarbener Uniform mit einem weißen Elevenknoten auf der Schulter und blickte mit meergrünen Augen von dem Buch auf, in dem sie gerade gelesen hatte.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Stevic, »aber ich muss Kustos Fiori sprechen.«
Das Mädchen klappte das Buch zu und seufzte. »Ich möchte ihn selbst gern sprechen, aber er ist der Einzige, der weiß, wo er steckt.«
Stevic wartete auf eine Erklärung, doch das Mädchen schien in ihre eigenen Gedanken versunken zu sein und sprach nicht weiter.
»Ähem«, räusperte er sich. »Wie meint Ihr das?«
»Er tut, was ein Spielmann eben am besten kann. Er reist. Soweit ich weiß, könnte er jetzt in den Nordländern, in der Ullem-Bucht oder in Rhovani sein. Er weiß nie, wo er sein wird, bis er dort eintrifft. Er ist manchmal ein Jahr lang weggeblieben, sogar noch länger, bevor ich in seinem Leben auftauchte. «
Stevic hielt sich für vorurteilsfrei, doch dieses Mädchen war nicht älter als seine Karigan. Den Gerüchten nach war der Goldene Kustos schon weit in den Sechzigern, und obwohl es nicht ungewöhnlich war, dass ältere Männer sich junge Frauen nahmen, die noch Kinder bekommen konnten, war dieser Altersunterschied schon kriminell zu nennen.
Stevic schritt zu einem staubigen Fenster hinüber, das einem den Blick auf den Campus gewährte. Eine Glocke läutete viermal. Sie musste recht nahe sein, denn er spürte ihre Vibrationen durch die Bodenbretter. Schüler strömten aus den Gebäuden auf den Hof, wechselten die Unterrichtsräume. Eigentlich sollte Karigan unter ihnen sein … Wo war sie? Auf dem Weg nach Hause, hoffte er. Eine weiße Taube hockte sich auf das Fenstersims.
»Fiori ist mir ja ein schöner Statthalter, wenn er nicht einmal hier ist, um seine Interessen wahrzunehmen.«
»Bitte?«, fragte das Mädchen. »Ich höre nicht gut. Am besten, Ihr stellt Euch vor
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