Der magische Wald
schwach bewußt, daß er wahrscheinlich unter Schock stand. Ohne weiter nachzudenken, stapfte er grimmig bergauf. Er wollte nur noch das Schloß erreichen. Immer wieder rutschte und strauchelte er über den verschneiten Boden -und stürzte einmal so schwer, daß er aufschrie. Hinten im Wald heulten immer noch die Wölfe, als wollten sich über seine Schmerzen lustig machen. Aber ich habe sie besiegt, dachte er. Irgendwie bin ich an ihnen vorbeigekommen. Habe es bis hierhin geschafft. Sein Atem war eine weiße Wolke. Als der Hang steiler wurde, bewegte er sich auf Händen und Füßen weiter. Der Schnee hinter ihm war aufgewühlt und blutbespritzt. Unerbittlich kämpfte er sich über die unversehrte weiße Fläche nach Süden, die Spur, die er zurückließ, konnte man meilenweit sehen. Den Waldläufer in ihm störte das, aber der Rest von ihm wußte, daß es egal war. Er hatte den Wolfswald überlebt, hatte nach so vielen Jahren sein Ende erreicht. Es würde keine Verfolger mehr geben.
Das Schloß kam langsam näher, ragte stockfinster in den mit Sternen übersäten Himmel. Kein Licht brannte dort, kein Lebenszeichen war zu erkennen. Es wirkte wie eine Ruine am Ende der Welt, ein grimmiges Mahnmal. Er kam immer höher, bis er schließlich auf gleichbleibender Höhe weitergehen konnte. Er hatte die Höhen der Hügel erreicht, mußte nur noch ab und zu eine Senke zwischen den Gipfeln durchqueren. Er befand sich hier höher als jemals zuvor in diesem Land, und wenn er sich umblickte, breitete sich das ganze Panorama dieser Welt vor ihm zu allen Horizonten hin aus. Im Norden erstreckte sich der frostüberzogene Wald unendliche Meilen weit im Mondlicht. Im Osten und im Westen setzte sich die Hügellandschaft fort. Dort waren die Hügel höher, und ihm wurde klar, daß er durch ein hügeliges Tal wanderte, das von den felsigen, schroffen Hügelkämmen im Osten und Westen umschlossen wurde. Es war, als durchschnitt ein Paß die Hügelkette nach Süden, der von dem Schloß überragt wurde. Im Süden, hinter dem schwarzen Felskegel, auf dem das Schloß des Schwarzen Reiters stand, befand sich eine weiße Landschaft aus zerklüfteten Felsgraten und Bergkämmen, die immer höher wuchs und zu den schroffen, gewaltigen, schneebedeckten Bergen am Horizont führte. Sogar aus dieser Entfernung spürte er die riesige Höhe und Kälte der Berge. Eis-und schneeüberzogene Berggiganten erstreckten sich wie eine mächtige Barriere an der Südseite dieser Welt. Er wußte jetzt, warum einige der Waldvölker sie für das Ende der Welt hielten, hinter dem nur noch ein unendlicher Abgrund kam, in dem die Sterne schwebten.
Das Schloß war jetzt direkt über ihm, schwarz und dunkel. Er war fast am Ziel, und seine Kräfte gingen zu Ende. Er blieb einen Moment stehen und sah, daß eine vereiste Straße sich um den Felskegel herum zu dem Schloß hochwand. Er stöhnte. Sein verletzter Arm hatte bis zum Bizeps jedes Gefühl verloren, die gebrochenen Rippen schmerzten unaufhörlich, und die Risse, die die Klauen des Wolfes hinterlassen hatten, bluteten heftig. Das Blut gefror sofort. Es war noch kälter geworden. Es herrschte eine erbarmungslose betäubende Kälte, die ihm bis ins Mark drang. Er konnte seine Füße nicht mehr spüren, und Eispartikel knisterten in seiner Nase. »Jesus«, stammelte er zitternd. Das hatte er nicht erwartet. Hatte er wirklich Cat im Wald gesehen, oder war es nur Einbildung gewesen? Er blickte hoch zu der Straße, die sich um den Felsen schlängelte.
Ich ... ich schaffe es nicht. Er wurde grob nach vorne gestoßen — er spürte deutlich zwei Hände in seinem Rücken — doch als er herumfuhr, war da niemand. Er stieß wilde Flüche aus. »Ist ja schon gut! Wenn du es unbedingt willst, werde ich es tun.« Stolpernd machte er sich auf das letzte Stück des Weges. Er fluchte und murmelte unablässig vor sich hin, versuchte, sich selbst anzuspornen. Doch der steile Anstieg und die eisige Kälte raubten ihm nach einer Weile den Atem, und er verstummte, rang keuchend nach Luft. Einmal blieb er stehen und spuckte dunklen Schleim, der sich hinten in seinem Hals sammelte, in den Schnee, und er wußte, daß eine seiner Rippen einen Lungenflügel verletzt hatten. Er kämpfte sich weiter, denn er konnte nirgendwo anders hingehen. Er rutschte auf einem schlüpfrigen Stein aus und stürzte, prallte mit dem Kopf auf den Boden. Ihm wurde schwarz vor Augen, und für einen Augenblick hatte er ein seltsames Gefühl: Er glaubte, zu
Weitere Kostenlose Bücher