Der magische Wald
Hause am warmen Küchenherd zu sitzen. Die Wärme umhüllte ihn und taute seine Zehen auf. Sein Zittern ließ nach. Aber der Waldläufer in ihm wollte nicht zulassen, daß er liegenblieb. Erfrierungstod, sagte er. Steh auf. Aber es war nicht seine eigene Stimme, die das sagte. Er öffnete mühsam die Augen unter den eisverkrusteten Wimpern und sah Cat, die sich über ihn beugte. Sie trug nur den weißen Umhang, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, doch sie schien die Kälte nicht zu spüren. Er lächelte. Dieser weiße Umhang. Sie hatte ihn so lange getragen. Er sah aus wie ein Krankenhaushemd, so eins, wie man es werdenden Müttern gab. Er fragte sich, warum ihm das noch nie aufgefallen war.
Sie sah ihn stumm an, und er seufzte. »In Ordnung.« Er stemmte sich hoch, kam auf Hände und Knie,dannauf dieBeine.Auf seinen Fingern und seinem Handrücken hatten sich weiße Flecken gebildet. Mein Gott, er war so müde. »Ich verfluche dich, Cat.« Aber er torkelte weiter. Er hatte das Gefühl, daß er schon seit vielen Stunden unterwegs war, aber im Osten wurde es nicht heller, es gab kein Anzeichen der Morgendämmerung, und der Mond schien sich kaum von der Stelle bewegt zu haben. An diesem Himmel gab es keinen Großen Wagen, mit dessen Hilfe man die Zeit bestimmen konnte. Er fragte sich, ob der Schwarze Reiter das Land in der Dunkelheit ließ, um seinen Aufstieg zu behindern. Vielleicht war aber auch nur sein Zeitgefühl durcheinandergeraten. Schließlich war auch alles andere durcheinandergeraten. Und dann war er am Ziel. Einfach so. Er stieß ein kicherndes Krächzen aus, das in einen krampfartigen, blutigen Husten überging. Die Wände des Schlosses ragten schwarz glänzend vor ihm auf — fünfzehn, zwanzig Meter hoch vielleicht. In der Mauer war keine Fuge, kein Spalt, kein Mörtelbröckchen zu erkennen. Unter den Füßen spürte er Pflastersteine — der Schnee war hier dünn —, und der kalte Wind heulte um den Felskegel. Er war so erschöpft, daß er nicht einmal zitterte. Ein hoher Torbogen gähnte dunkel vor ihm. Ein ausgetrockneter Wassergraben klaffte wie ein dunkler Abgrund im Felsboden. Darüber führte eine baufällige Steinbrücke zu dem Portal. Wie die Brücke zu Hause, dachte er. Ein Durchgang. Er wußte, daß er durch das Tor gehen mußte, und er wußte, daß er sich beeilen mußte, denn sein Bewußtsein und sein Leben schwanden langsam. Sein Körper war trotz der Jahre des Mißbrauchs noch immer hart und zäh, aber letztendlich war er nur ein Mensch. Sterblich. Er torkelte durch den Torbogen. »Cat! Bist du hier?« Große Gebäude umgaben den Schloßhof. Hinter ihm lag ein hoher Wachturm, von dem ein breiter Weg auf den Hof führte. Ein eingebrochener Brunnen befand sich in der Mitte des Platzes. Die Gebäude waren Ruinen. Eingestürzte Wände, löchrige Dächer. Schindeln und Schutt übersäten zusammen mit den verfaulten Überresten einst mächtiger Eichenholzbalken das Pflaster. Michael schlurfte durch die Überbleibsel vergangener Jahrhunderte. Zerbrochene Schwerter, Teile von Kettenhemden, Knochen und Schädel. Töpferwaren, Kupferkessel, glitzerndes rauhreifüberzogenes Werkzeug, das im Mondlicht schimmerte. Alles lag wirr durcheinander auf dem gepflasterten Hof, wie Reiskörner nach einer Hochzeit. Verlassen. Der Ort war völlig verlassen. Er stöhnte. »O Gott.« Und dann, irgendwo in der Nähe, Musik. Ein Tamburin wurde geschlagen, jemand spielte auf einer Mandoline, der goldene Klang einer Harfe ertönte. Wundervolle, betörende Musik, gleichzeitig fröhlich und voller Wehmut, die sein Herz anrührte und dann leise wie das Echo eines Silberglöckchens verhallte. Er hatte diese Musik schon einmal gehört.
Hohe, kreideweiße Mauern, die im Sonnenlicht emporragten. Es gab Zinnen und flatternde Fahnen und Männer in glänzenden Rüstungen, die auf großen Pferden ritten. Eine Brücke überspannte einen breiten, glitzernden Fluß, und daneben badeten schlanke Mädchen.
Ein Bild, das so schnell wieder verschwand, wie es erschienen war. Warum hatte er das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein? Er rief noch einmal Cats Namen. Dumpf hallte seine Stimme über den Hof, wie in einem schallisolierten Raum. Warum hatte er überhaupt erwartet, sie hier zu treffen? Weil er sie gespürt hatte. Sie war bei ihm gewesen seit er den Wald verlassen hatte. Sie war hier. Sein Blick verschwamm. Er war am Ende seiner Kraft. Er sank mit den Knien auf den harten Boden. Der Schwarze Reiter ritt aus dem
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