Der magische Wald
Anderen Ort noch immer an den Kleidern. Er kam zu spät zum Essen, und Tante Rachel schlug die Hände überm Kopf zusammen, als sie ihn erblickte. »Jesus, Maria und Joseph!« Danach mußte er die zerbrochene Flasche erklären. Seine Großmutter stand mit verschränkten Armen vor ihm und hörte sich seine Lügen und Halbwahrheiten mit einem Gesichtsausdruck an, der ihn glauben ließ, daß sie ihm vollstes Verständnis entgegenbrachte. Großvater und Mullan blieben gedankenvoll rauchend am Feuer sitzen, aber Michael sah, wie Pats alte Augen abschätzend den dreckverkrusteten Gewehrlauf taxierten. Ein Bad wurde eingelassen, und er wurde schleunigst hineinbefördert. Am ganzen Körper war er schmutzig, sogar unter der Kleidung. Als er an seinem Arm schnupperte, roch er Minze, Mädchen und Rauch. Er genoß das dampfende Wasser und fragte sich, wo sie jetzt war, in welcher Welt, unter welchen Bäumen. In seinem Beutel war kaltes Schweinefleisch, fiel ihm ein. Er mußte es am Morgen irgendwo loswerden. Ein anderer Morgen, in einer anderen Welt. Vor wenigen Minuten hatte er einen Wald verlassen, über dem eine helle Sonne stand, und jetzt war er hier an einem Ort, an dem dunkle Nacht hinter dem Fenster lag. Er konnte auf dem Hof die Laternen der Männer blitzen sehen, die zu ihrem nächtlichen Kontrollgang zu den Tieren auf der Weide aufbrachen. Auf jeden Fall war er müde. Das Schlafen im Wald schien gar kein richtiges Schlafen zu sein, vielmehr eine Art halbbewußten Dämmerns. Er gähnte. Wohin war er geraten? Was war dieser Ort, an den sie ihn gebracht hatte, mit seinen Monstern und Wäldern? Und wieviel von dieser Welt gab es hier, in seiner eigenen Welt? Gab es eine Trennlinie zwischen den Welten, die durchlässig wurde, oder lag es nur an ihm, waren es seine Phantasien, die niemand sonst sehen konnte? Irgend etwas hatte diese Falle im Wald verbogen, irgend etwas Großes. Und er hatte in jener Nacht diesen schrecklichen Schatten im Hof gesehen. Er hatte den Schädel eines seiner Artgenossen ausgegraben. Nein. Es war gleichzeitig real und irreal. Es war dort, wartete auf ihn, und Cat wollte, daß er es betrat, seine Wunder erlebte. Daß er eine Reise in das Wunderland machte.
Die Schule hatte wieder angefangen. Es war kaum zu glauben, wie die Tage verflogen, ohne besondere Ereignisse vorbeigingen und den Spätsommer zum Herbst werden ließen. Der Sommer schien im Eiltempo vorbeigerast zu sein. Jetzt würde die Zeit wieder langsamer vergehen. Michael verbrachte lange Stunden der kürzer werdenden Tage in der Enge des Klassenzimmers, mit dem Geruch von Kreide und muffigen Büchern, mit den Stimmen seiner Mitschüler. Aber nie verließ ihn der Gedanke daran, daß es mehr gab -daß nur ein paar Herzschläge entfernt eine ganze Welt lag. Sie brodelte in einem Winkel seines Bewußtseins wie ein Kochtopf auf dem Herd. Grammatik, Algebra, Trigonometrie, Irisch, Religion. In diesen Fächern wurde er unterrichtet, unverdrossen im Einklang mit dem Rest der Klasse, den Blick draußen auf den gelblichen, abgeernteten Feldern hinter den kleinen Fenstern. Geschichte, Frühgeschichte, die Bezähmung des Feuers durch Feuerstein und Holz, die Flora und Fauna einer längst verschwundenen Wildnis, das Anfertigen von Werkzeug, Begräbnissitten, Hügelgräber. All dies brachte er sich in einem ungeordneten Streifzug durch verschiedene Bücher und durch seine Gespräche mit Mullan bei. Es war ein wirres Lernen ins Blaue hinein, mit großen Lücken auf manchen Gebieten und überflüssigem Detailwissen auf anderen. Aber es war wichtig -daran glaubte er fest. Es befriedigte seinen wachsenden Appetit auf das Außergewöhnliche, nährte aber ebenso den Glauben seiner Mitschüler an seine Exzentrizität. Miss Glover schien ihm mit einer seltsamen Mischung aus Ermutigung und Tadel entgegenzutreten. Sie hatte ihm Bücher geliehen, aber es waren die falschen Bücher gewesen; er hatte sie ihr ungelesen zurückgegeben. Nichts, was sie tat, schien ihm zu passen, er blieb entschlossen, sich immer tiefer in seine selbstgewählten Forschungsgebiete einzuarbeiten. Mit anderen Themen beschäftigte er sich nur oberflächlich. Aus Verwunderung wurde bei ihr Verärgerung und Wut. Michael mußte jetzt öfter nachsitzen, brütete allein in der Stille des Klassenzimmers über einem verzwickten mathematischen Problem, während Miß Glover böse an ihrem Pult saß, und der helle Tag draußen verstrich. Seine Großmutter und seine Tante bestraften ihn zusätzlich,
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