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Der magische Wald

Titel: Der magische Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Kaerney
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durch den Raum zum Fenster ging und es weit öffnete. Für ein paar Sekunden starrte er hinunter auf das Gewimmel der Stadt, auf die orangefarbenen Straßenlampen und die Lichter der Autos. Er fragte sich, wo die Wölfe heute nacht waren, wo der Wyrim war, ob er überhaupt hier war, oder ob ihm sein Verstand nicht Streiche spielte. Ein Hüsteln. Er drehte sich um und lächelte entschuldigend. »Entschuldigung, ich habe geträumt. Setz dich. Ich hole dir einen Drink.« Sie setzte sich auf die Kante des großen Sofas. Er schlängelte sich zu der Kommode, auf der die Flaschen standen, überlegte es sich anders, seufzte und setzte sich zu ihr. Da wären wir also, dachte er. Jung. Sie wirkte so unglaublich jung, wie sie in ihren Stadtkleidern da saß. Glänzende Schuhe, glatte Strumpfhosen und ein elegantes Jäckchen. Und ein Aktenkoffer, Herr im Himmel. Sie hielt ihn auf dem Schoß wie eine Geheimwaffe. Hatte sie bis jetzt gearbeitet? Schwarzes, dichtes Haar bis knapp auf die Schultern. Große dunkle Augen unter Brauen, die dichter gewesen wären, wenn sie sie nicht ausgezupft hätte. Ein rundes Gesicht mit einem hübschen Näschen und sorgsam geschminkten Lippen. Keine Geschäftsfrau. Mehr ein Geschäftskind. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie sie unter den Kleidern der Macht aussah. Vage Erinnerungen an weiße Kurven, weiche Glieder. Große Brüste. Er hatte seinen Kopf zwischen sie gelegt, war für einen Moment fast zufrieden gewesen. Sie redete auf ihn ein. »... normalerweise nicht, und als du nicht angerufen hast, dachte ich, daß ...« »Warum bist du mitten in der Nacht gegangen?« Sie zögerte. Es war nicht sehr hell, aber er glaubte, sie erröten zu sehen. »Du warst betrunken. Du hast Unsinn geredet, über Bäume und Feen und Katzen. Und dann hast du Unverständliches von dir gegeben, wie in einer fremden Sprache. Ich hatte Angst. Ich dachte, es ist vielleicht Gälisch oder so etwas. Ich dachte, ich bin mit einem Verrückten ins Bett gestiegen.«

    Unwillkürlich mußte er lächeln, und diesmal lächelte sie zurück. »Haben wir ...?« »Nein, du warst zu betrunken. Es war richtig süß. Du hast dich immer wieder entschuldigt.« »Verstehe.« Schweigen. Nur die Geräusche der Stadt. Plötzlich wollte er, daß dieses Mädchen bei ihm blieb, die Nacht mit ihm verbrachte. Aber es gab noch eine weitere Peinlichkeit. »Ich habe deinen Namen vergessen.« Die Augen blitzten kurz temperamentvoll auf. Er erwartete, daß sie aufstand und ging, aber statt dessen sagte sie ruhig: »Clare.« Er nickte. »Ich hatte es dir zusammen mit meiner Telefonnummer aufgeschrieben. Den Zettel habe ich neben das Bett gelegt.« »Warum bist du zurückgekommen?« Er

    war zu müde, um um den heißen Brei herumzureden. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, um zu sehen, ob du wirklich ein Verrückter bist.« Sie sahen sich an, Fremde, die sich vergangener Intimitäten schämten. Intimitäten, die aber gleichzeitig seltsamerweise ein Zusammengehörigkeitsgefühl schafften. »Wie war's mit einem Drink?« fragte Michael, als schlüge er einen Waffenstillstand vor. Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich würde gerne einen Kaffee trinken.« Zum ersten Mal verschwand der Aktenkoffer von ihrem Schoß. Sie war zwanzig Jahre alt. Ihr Akzent verriet eine teure Schulbildung und ihr Geruch ein teures Parfüm. Er ließ sie reden, war sich seines zerknitterten Aussehens bewußt und hoffte, daß sie weder die leere Flasche in der Manteltasche noch seinen Bauch registrieren würde. Die Eitelkeit, dachte er belustigt, ist eine irrationale Sache. Es wurde spät, und die Stadt fiel in ihren kurzen Schlaf. Müdigkeit zupfte an seinen Augenlidern, und er merkte, daß er nicht mehr darauf achtete, was sie erzählte. Er nahm nur noch ihre angenehme, kultivierte Stimme wahr, die die Stille vertrieb. Er war bereit, die ganze Nacht hier zu sitzen und den Schlaf zu verdrängen, nur um weiter diese Stimme zu hören. Solange sie dort mit ihrem eleganten Duft saß, kam der Wald nicht in das Zimmer, und seine Geister blieben tief in der Erinnerung, wo sie hingehörten. Schließlich aber hörte sie auf zu reden. Sie balancierte die leere Kaffeetasse auf ihrem Knie, als befände sie sich im Salon eines Monarchen, streckte eine Hand nach dem Aktenkoffer aus und berührte ihn, als sei er ein Talisman. »Ich muß morgen früh zur Arbeit.«

    »Ich auch.« Schweigen, ein Moment der stummen Kommunikation. »Ich habe einen Wecker. Er funktioniert meistens.« Wieder Schweigen.

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