Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Aber kann gut sein, dass es diese Richtung war.«
»Doch, ich bin ganz sicher.« Die alte Dame signalisierte mit einem Handzeichen, dass sie gern wieder aufstehen wollte, und diesmal half ihr Niklas. »Glauben Sie, dass das etwas zu bedeuten hatte?«, fragte sie, während sie sich den Sand vom Mantel klopfte.
»Man muss jede Spur verfolgen.«
»Ich habe es die ganze Zeit gesagt: Diese Puppen waren ein Omen.«
Da kam Niklas ein Gedanke. »Sie haben nicht zufällig eine Karte von Bergland?«
»Mehrere.« Julian schien die Gedanken des Polizisten lesen zu wollen.
»Darf ich mir eine ausleihen?«
Eine halbe Stunde später war Niklas wieder zu Hause. Er hatte das Ehepaar nach Hause gefahren und eine Karte mitnehmen dürfen, die zwar aus den Siebzigern stammte, dafür aber den größten Maßstab hatte. Er zog den Küchentisch aus und breitete die Karte komplett aus. Der Strand, an dem Sara Halvorsen gefunden worden war, lag nördlich von dem Strand, den er gerade besucht hatte. Sowohl der Ånestind als auch das Horn waren eingezeichnet, das hatte er überprüft, bevor er die Karte mitnahm. Die Körper der Frauen waren so arrangiert worden, dass sie in eine bestimmte Richtung zeigten, und er weigerte sich, das als Zufall zu betrachten. Da er kein Lineal zur Hand hatte, musste er sich mit einer abgesägten Leiste begnügen. Er markierte so sorgfältig wie möglich und unter Berücksichtigung einer gewissen Abweichung, wo die Frauen gefunden worden waren, und zog dann eine Linie von den Frauen zu den Gipfeln, auf die sie gezeigt hatten. Am Schnittpunkt der Linien lag der östliche Rand von Bergland, eine der vielen Buchten. Wenngleich er nicht mit allen umliegenden Dörfern vertraut war, erkannte er diese Bucht sofort wieder und wusste, dass dort nur ein einziges Haus stand – und das gehörte Kariannes Vater.
In diesem Moment wusste er, dass die Lösung direkt vor ihm lag, wie schon die ganze Zeit. Es ging um Karianne. Trotz der Krankheit, die ihr so übel mitgespielt und ihr jede Chance genommen hatte, das Leben eines normalen Teenagers zu führen, hatte sie immer Glück gehabt. Seinen Anfang nahm es mit dem Platz in der Handelsschule. Ab dem Tag hatte ihr Vater beschlossen, Kariannes Leben zwar nicht zu bestimmen, aber ihre Umgebung zu kontrollieren, damit immer alles so ausging, wie es am besten für sie war. Als sie von zu Hause auszog, hatte er die Dinge vorübergehend aus der Hand geben müssen, und seine zaghaften Versuche, sie zurückzulocken, waren misslungen. Sie musste ihrem Vater von den beginnenden Symptomen erzählt haben, wie irgendetwas in ihrem Körper wieder zu gären begann. Wahrscheinlich hatte Reinhard schon lange vor Niklas Bescheid gewusst. Da war sein Drang, ihr Leben zu behüten, wieder in ihm erwacht. Und das konnte er am besten, indem er sie nach Hause holte. Daher auch seine Krankheit. Hatte es sich so abgespielt? Niklas wurde fast schwindlig von den bizarren, unwirklichen Bildern, die vor seinem inneren Auge vorbeiflimmerten. Er weigerte sich, es zu glauben, konnte sich aber nicht ganz von dem Gedanken freimachen. Der Mangel an Motiven, die fehlende Verbindung zwischen den Opfern – war die Ursache am Ende das schreckliche Szenario, das ihm gerade über die Netzhaut flimmerte wie die Bilder aus einem wildgewordenen Projektor? Karianne war gerade in der Arbeit. Als Ersatz für Ellen Steen. Wieder krampfte sich sein Magen zusammen. Er dachte daran, wie Ellens Tante ihre Nichte pries und darauf beharrte, dass es sich bei diesem Überfall nur um blinde, sinnlose Gewalt handeln konnte. Denn es gab überhaupt keinen Grund, Ellen Steen etwas Böses zu wollen. Es sei denn, dass jemand ins Dorf gezogen war, der zufällig dieselben Kompetenzen hatte wie sie und arbeitslos war. In diesem Moment wuchs sich sein Magenkrampf zu akuter Übelkeit aus, und er stürzte ins Bad. Während er vor der Kloschüssel kniete und sich übergab, drängte sich ihm immer wieder das Bild von Karianne auf. Sie hatte ihn auf der Halbinsel herumgeführt, zu jeder Ecke und jedem Winkel. Und sie hatte ihm auch ihr Traumhaus gezeigt und gemeint, wenn sie so ein Haus hätte, würde sie nicht zögern hierzubleiben. Und dabei hatte sie auf das Haus von Sara Halvorsen gedeutet.
35
Er starrte aus dem Fenster. Die Wendung, die die Dinge auf einmal genommen hatten, lähmte ihn beinahe. Da zogen plötzlich die Scheinwerfer eines ankommenden Autos seine Aufmerksamkeit auf sich. Als er überlegte, was er Karianne sagen sollte,
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