Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Veranda. Er fühlte, dass mehrere Bretter schon unter seinen Füßen nachgaben, aber er hörte kein Knarren. Das Holz war schon völlig durchgefault. Eine kräftige Balsampappel wuchs über die Veranda, und er dachte sich, dass die Zweige während der Herbststürme bestimmt gegen die Wand peitschten. Da nahm jemand das Zurückstutzen der Zweige offenbar nicht besonders ernst. Die Brüstung der Veranda war zwar wackelig, aber er kletterte trotzdem hinauf. Seine Knie führten im ersten Moment ein Eigenleben unter ihm, doch nach und nach bekam er sein Zittern unter Kontrolle. Als er nach oben blickte, sah er, dass das Fenster mit einem ganz gewöhnlichen Haken offen gehalten wurde. Er kletterte auf einen der Äste und grätschte von dort auf das kleine, schräge Brett, das als zusätzlicher Regenschutz über dem Fenster im Erdgeschoss angebracht war. Mit der nächsten Bewegung bekam er das Fenster im Obergeschoss zu fassen. Er angelte den Haken aus der Öse und machte das Fenster ganz auf. Noch einen kleinen Sprung, dann bekam er den Fensterrahmen mit beiden Händen zu fassen und zog sich hoch. Erst blieb er kurz hängen, aber da sein Schwerpunkt bereits innen war, konnte ihm nichts mehr passieren. In der Dunkelheit zeichneten sich ein Bett und ein Schrank ab. Geräuschlos ließ er sich auf den Boden fallen. Der Geruch des Hauses und seines Besitzers stieg ihm in die Nase. Er blieb unbeweglich liegen und spürte den kalten Boden unter Händen und Gesicht. Keine Geräusche von drinnen. Entweder war niemand da, oder der Hausbesitzer wartete lautlos darauf, dass seine Beute in die Falle ging.
Niklas stellte sich neben die Tür und probierte die Klinke. Mit einem trockenen Knarren glitt die Tür auf. Immer noch keine Geräusche. Er duckte sich und blickte in einen offenbar leeren Dielengang mit einem langen Flickenteppich. Eine Tür auf jeder Seite – die eine angelehnt, die andere verschlossen. Er schlüpfte aus seinen Schuhen und schlich sich bis zu den Türen. Da er befürchtete, dass die geschlossene Tür von innen aufgerissen werden würde, sobald er ins Nebenzimmer ging,
versetzte er der angelehnten Tür einen Stoß mit dem Fuß, um sich in der nächsten Sekunde an die Wand zu pressen. Nichts geschah. Langsam kam er zu der Überzeugung, dass das Haus leer war. Noch ein Schlafzimmer, stellte er fest, aber keine Decke auf dem Bett – dieses Zimmer wurde also nicht genutzt. Als er die nächste Tür öffnete, war er schon ziemlich sicher, dass er allein im Haus war. Auch diese Tür schob er mit dem Fuß auf. Fünf Frauen starrten ihn an. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er kapierte, dass es sich um Schaufensterpuppen auf kleinen Podesten handelte. Ihre Haltung war so arrangiert, dass sie aussahen, als wären sie in einer ganz natürlichen Bewegung erstarrt. Eine auf dem Boden stehende alte Tischlampe warf einen gespenstischen Schein auf die Puppen. Mit dem Gefühl, ein Kabinett des Wahnsinns zu erblicken, betrat er das Zimmer, das bis auf die Puppen und die blassbraune Lampe völlig leer war. Alle Puppen trugen altmodische Kleider, die mehrere Nummern zu groß waren und ihnen um die wohlgeformten Körper hingen. Niklas hatte das Gefühl, dass man sie eher angezogen hatte, um sie zu verdecken, als um sie zu schmücken.
Er trat näher und sah, dass alle Gesichter gleich geformt waren. Warum Schaufensterpuppen? Und warum fünf identische? Keine der Puppen hatte Haare, was er seltsam fand, da der Hersteller sich offenbar große Mühe gegeben hatte, naturgetreue Puppen zu produzieren. Niklas umrundete sie und blieb vor einer Figur stehen, der ein Schatten schräg über das Gesicht fiel. Er stutzte und fuhr ihr mit dem Finger über die Wange. Die Oberfläche war kalt und hart, wie glasiert. Trotzdem waren mitten auf dem Kopf Risse zu sehen. So gut konnte die Qualität der Puppen dann wohl doch nicht sein. Er drehte sich um und starrte direkt auf den Hinterkopf einer Figur in einem verwaschenen Kleid. Dieselben Risse, wie bei trockener, rissiger Haut. Mit einer schaudernden Vorahnung näherte er sich einer der Puppen, die die Hand gehoben hatte, als wollte sie jemand zum Abschied zuwinken. Die Risse waren nicht so zahlreich, breiteten sich aber ebenso von einer Verletzung mitten auf dem Kopf aus. Mitten auf dem Kopf . Er wusste, was er hier sah, doch er weigerte sich, es sich wirklich bewusst zu machen. Es war, als müssten sich seine Gedanken durch versülztes Öl kämpfen.
Er schwankte aus dem Zimmer und kümmerte sich
Weitere Kostenlose Bücher