Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
nicht mehr darum, ob er zu laut war. Über die Treppe lief er nach unten und rief den Namen seines Kollegen. Keine Antwort. Er lief durch alle Zimmer und in den Keller, der leer war, bis auf einen kleinen Kartoffelvorrat und ein paar Gartengeräte. Sie waren nicht hier. Er war schon auf dem Weg aus der Tür, als ihn eine verspätete Wahrnehmung einholte. Langsam drehte er sich um. Er sah in imaginären Bildern, wie die Schläge in Stärke und Zielpunkt immer genauer eingestellt wurden. Der Täter hatte schon mal danebengetroffen und wollte nicht, dass ihm das noch einmal passierte. Niklas holte sein Handy aus der Tasche. Er konnte nicht mehr warten.
40
Reinhard, der aus Respekt vor seiner Tochter nie in ihrer Korrespondenz geschnüffelt hatte, hob behutsam den Brief auf, nach dessen Lektüre sein Schwiegersohn zur Tür hinausgelaufen war. Er wusste, dass Niklas irgendetwas wiedererkannt haben musste, obwohl der Absender anonym war. Er betrachtete Kariannes Namen auf dem rosa Kuvert und hatte das vage Gefühl, dass ihm diese Handschrift nicht ganz unbekannt vorkam. Dann las er den Brief, ohne den Inhalt zu erfassen. Das Gefühl, diese Schrift schon mal in einem anderen Zusammenhang gesehen zu haben, hielt an. Der Anfangsbuchstabe jedes Wortes war in schöner Schreibschrift geschrieben, als sollte er die nachfolgende Reihe von unverbundenen Buchstaben schmücken. Da die Margarinedose jahrelang unberührt im Schrank gestanden hatte, musste er die Schrift von irgendeinem Brief kennen, den er selbst bekommen hatte. Auf zittrigen Beinen kletterte er wieder ins Erdgeschoss hinunter. Sein Körper schrie nach Ruhe, und er dachte an Niklas’ Worte: »Trink keinen Johannisbeersaft mehr.« Das war doch völliger Unfug, er kaufte sich den Saft im Konsumverein, es war unmöglich, dass sich irgendjemand daran zu schaffen gemacht hatte. Es sei denn, jemand war in sein Haus eingebrochen. Reinhard setzte sich in die Küche und holte einen Stapel mit Briefen und Kontoauszügen hervor, aus dem er die Briefe aus Bergland herausfischte. Er sammelte immer alle Schreiben von Januar bis Dezember, und am Ende des Jahres archivierte er die, die er aufbewahren wollte. Schließlich saß er vor einem Stapel von ungefähr zwanzig Briefen – keine große Ausbeute für fast zehn Monate. Er grinste schief, als er den ersten öffnete. Das Schreiben trug die Unterschrift von Karina Søderholm, der Vorsitzenden des Gemeinderats, die ihn mit schwülstigen Worten zum diesjährigen Sommerfest einlud. Gott sei Dank war es eine andere Schrift. So las er sich durch alle Briefe und wollte schon fast sein Bauchgefühl anzweifeln, als er den vorletzten Umschlag öffnete. Er hatte den Stapel umgedreht, also war es einer der Briefe, die er erst in letzter Zeit bekommen hatte. Da er seinen eigenen Schlussfolgerungen nicht mehr recht über den Weg traute, warf er nur einen flüchtigen Blick auf die Unterschrift, doch erst als er den Brief wieder in den Umschlag zurücksteckte, dämmerte ihm, dass er hier irgendetwas wiedererkannt hatte. Er starrte auf den Namen des Absenders, der in fetten Buchstaben in der Ecke oben links prangte. Das konnte doch nicht wahr sein. Es musste eine Schrift sein, die der aus Kariannes Briefen einfach nur ähnelte. Er begann zu zittern wie bei seinen schlimmsten Schmerzanfällen, als er das Schreiben noch einmal aus dem Kuvert zog. Es waren nur ein paar maschinengeschriebene Zeilen; es ging um seinen Reisepass, den er sich hatte verlängern lassen, als er sich vor Ausbruch seiner Krankheit von der ersten Frühlingsbrise mitreißen ließ. »Hiermit übersenden wir Ihnen …« Reinhards Blick fiel auf die Unterschrift, und er zitterte noch heftiger. Das war doch absurd, das konnte unmöglich stimmen. Er legte den Brief auf den Tisch und starrte auf die Unterschrift. Die Schrift war identisch. Das war er. Der Text begann sich vor Reinhards Augen zu bewegen, tanzte von einer Seite auf die andere und schien sich vom Tisch zu heben, während Reinhard aus dem Papier das Wort LENSMANN entgegenwuchs.
41
»Verzweifelt?« Die Stimme klang desinteressiert.
»Du hast gesagt, du hättest alles für Karianne getan.«
»Alles.«
»Jetzt ist sie wieder krank.«
»Ja.«
»Es geht um Tage.«
»Ja, vielleicht.«
»Du warst der Erste. Das hat sie mir erzählt.«
»Der Erste?« Die Stimme verriet ehrliche Neugier.
»Ihre erste Liebe. Sie hat mir von den Briefen und ihrem anonymen Verehrer erzählt, der anders war als alle anderen. Sie hat
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