Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
zwischen zwei Autos vergehen. Es war unvermeidlich, dass er sie fand.«
»Du hast ihn benutzt …«
»Niemals. Ich habe nur dafür gesorgt, dass er derjenige sein durfte, der ihr das Leben rettete. Kannst du dir etwas Größeres vorstellen, Niklas? Ein Vater, der seinem eigenen Kind das Leben retten kann?«
»Was willst du mit ihr?«
Das Lachen war gekünstelt. »Das ist doch offensichtlich. Ich habe ihr das Leben geschenkt. Da ist es doch genauso meine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie es behält. Oder es auf eine Art verlässt, die ich für sie als würdig erachte. Ich muss jetzt aufhören, sie braucht mich. Und du willst doch nicht, dass ihr ein Haar gekrümmt wird, nicht wahr? Oder dass sie nach Luft ringen muss, weil du meine Zeit in Anspruch genommen hast, um mir zu erzählen, dass ich wahnsinnig bin? Dachte ich’s mir doch. Aber jetzt ist es leider so, dass ich ein bisschen Zeit brauche, um letzte Hand an mein Werk zu legen. Ich nehme in einer Stunde wieder Kontakt mit dir auf. In der Zwischenzeit verhältst du dich ruhig. Ganz ruhig.«
Dann legte er auf.
Niklas starrte wie gelähmt auf sein Handy. Er hatte immer noch nicht recht begriffen, dass der Täter jemand aus seinem eigenen Umfeld war. Durch den Briefwechsel hatte Karianne ein Band zu einem kranken Menschen geknüpft, der sich vorgenommen hatte, ihr das Leben zu retten. Dieser verrückte Wohltäter wusste, dass dafür eine Organspende nötig war, und beschloss, die Regie zu übernehmen. Die Wahl war auf Linea gefallen, wahrscheinlich weil er sich Edmund Antonsen als passendes Opfer auserkoren hatte, einen Mann, der sich in die dunkelsten Abgründe des Gewissens soff. Doch die Dinge waren nicht gelaufen wie geplant, und er hatte sich jemand anders aussuchen müssen. Diesmal gelang es ihm, und die Niere der Frau trug dazu bei, Karianne am Leben zu erhalten.
Plötzlich bekamen die Worte des pensionierten Pathologen einen ganz neuen Sinn. Er hatte angedeutet, dass der Schlag, der Linea den Schädel gebrochen hatte, nicht besonders hart gewesen war. Wahrscheinlich wäre »kontrolliert« die bessere Wortwahl gewesen. Denn der Schlag sollte sie gar nicht auf der Stelle töten. Sie sollte noch ein paar Stunden am Leben bleiben, lange genug, um eine ihrer funktionierenden Nieren zu spenden.
Eine Stunde. So viel Zeit stand ihm zur Verfügung. Er warf einen Blick auf die Uhr. Er musste etwas unternehmen. Da kam ihm ein Gedanke. Vielleicht ein Schuss ins Blaue, aber es war der einzige Ort, der ihm einfiel, an dem Karianne gefangen gehalten werden könnte. Und deswegen würde er jetzt dort hinfahren.
Das Haus, das aussah, als wäre es in den fünfziger Jahren gebaut worden, lag abgelegen am Meer. Ein kompakter Bergrücken schirmte es von der Umwelt ab – als hätte er sich bei der Wahl des Grundstückes bewusst für die Einsamkeit entschieden. Er parkte an einer kleinen Abfahrt, kurz vor dem Weg, der zum Haus hinabführte, und kletterte die Klippen hinunter, die die Bucht wie versteinerte Monsterwellen säumten.
Das letzte Tageslicht verschwand gerade am Horizont, doch nach ein paar Fehltritten hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und er kletterte geschickt über die Felsen, wobei er Halt in den Rissen und Spalten des Gesteins fand. Schließlich kauerte er sich hinter der letzten kleinen Anhöhe zusammen und beobachtete von dort das Haus. Kein Rauch kam aus dem Schornstein, und aus den Fenstern drang nur gedämpftes Licht. Das bestärkte ihn in der Hoffnung, dass sie dort gefangen gehalten wurde. Niklas glaubte zu erkennen, dass eines der Fenster im Obergeschoss gekippt war. Das konnte ebenso gut eine Falle wie ein glücklicher Zufall sein, doch er hatte weder die Zeit, noch erlaubte es ihm seine Situation, sich übervorsichtig zu verhalten. Eine Lampe verbreitete über der Eingangstür ihren gelblichen Schein und machte ihm die Entscheidung leicht. Er musste über das Fenster einsteigen. Niklas kroch auf allen vieren an der Klippe entlang, die kurz darauf abfiel und in einen kleinen Rasenstreifen überging. Die Feuchtigkeit des Heidekrauts drang ihm sofort durch die Kleider, doch er spürte es kaum. Sein Herz hämmerte so heftig gegen den Brustkorb, dass es geradezu körperlich wehtat. Bei dem Gedanken, dass jemand in diesem Moment vielleicht jede seiner Bewegungen beobachtete, krampfte sich sein Magen wieder zusammen. Er blieb kurz sitzen, bis er seinen Atem wieder unter Kontrolle hatte, dann kletterte er vorsichtig auf die
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