Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
und blätterte die Umschläge kurz durch.
An Karianne Sund.
Ganz kurz streifte ihn das Gefühl, dass er etwas übersah, bevor er willkürlich einen Brief auswählte. Als würde ihm die Identität des Mörders entgegenleuchten, aber er konnte sie nicht erkennen. Er ließ den Blick über den Text schweifen, ohne auf den Inhalt zu achten. Stattdessen betrachtete er nur, wie die Worte geformt waren, wie der erste Buchstabe jedes Mal in schön geschwungener Schreibschrift gestaltet war, gefolgt von den lose aneinandergereihten restlichen Buchstaben. Die Briefe waren unterschrieben mit »Dein Verehrer«. Die Schrift verriet ihm, um wen es sich handelte.
Niklas war so erschüttert über seine Entdeckung, dass ihm der Brief aus der Hand fiel.
»Was ist los, Niklas?«
Ein neuerliches Stechen im Magen führte ihn zur nächsten Erkenntnis. »Trinkst du diesen Johannisbeersaft eigentlich jeden Tag, Reinhard?«
»Was hat das denn jetzt mit dem Johannisbeersaft zu tun?«
»Antworte mir einfach.«
»Was Gesünderes gibt es kaum.«
»Und du hast neulich eine Flasche umgeworfen, oder?«
»Und musste mir eine neue aufmachen, genau.«
Er hatte angenommen, dass die Verbesserung von Reinhards Zustand mit dem Glauben zusammenhing, dass Karianne hierblieb. Doch wahrscheinlich war sie eher eingetreten, weil er versehentlich das Gift ausgeschüttet hatte, das er sonst jeden Tag mit großem Appetit in sich hineinschüttete.
»Hast du diese Flasche noch?«
»Was geht hier eigentlich vor, Niklas?«
»Hast du die Flasche noch, die du umgeworfen hast?«
»Die muss wohl im Müll sein.«
»Hol sie wieder raus und versteck sie. Und trink keinen Johannisbeersaft mehr, bis du von mir gehört hast.«
»Aber um Gottes …«
Niklas war bereits auf dem Weg aus dem Schlafzimmer. »Und schließ die Tür ab, Reinhard.«
Kaum dass er die Stufen betrat, rannte er schon die Treppe hinunter. Eine wachsende Angst sagte ihm, dass er die Wahrheit zu spät entdeckt hatte.
Im Laufen versuchte er ihre Nummer zu wählen, doch er verwählte sich und musste noch einmal anfangen. Er war gerade am Auto, als er das Freizeichen hörte, und er wünschte sich verzweifelt, ihre Stimme zu hören. Doch stattdessen teilte ihm nur eine andere Frauenstimme mit, dass der gewünschte Teilnehmer sich in einem Gebiet ohne Netz aufhalte. Er weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken, er zwang sich, an einen Zufall zu glauben, und redete sich ein, wenn er sie immer und immer wieder anrief, würde er ihre Stimme schon irgendwann hören. Er fuhr mit Vollgas vom Hof, wählte die Nummer erneut und hielt sich das Handy jedes Mal wieder schnell ans Ohr, wenn er den nächsthöheren Gang eingelegt hatte. Die Straße verengte sich, und sein Auto kam ins Schleudern, als wäre der Asphalt vereist. Er musste rasch gegenlenken, während ihm aus dem Handy wieder dieselbe Fehlermeldung entgegentönte. In all dem Chaos flüsterte ihm die Vernunft zu, dass er sein Tempo drosseln musste, und er zwang sich zur Zurückhaltung, bis er die Bundesstraße erreichte. Die Straßenlaternen schossen ihm entgegen wie Leuchtspurmunition, streiften ihn am Rande, während er krampfhaft das Lenkrad umklammerte. Karianne hatte das Ganze also selbst ins Rollen gebracht. Sie hatte die Briefe beantwortet und sich in ihrer Unschuld und ihrem kindlichen Eifer von der Aufmerksamkeit dieses Jungen verführen lassen, hatte ihn zu dem ermuntert, was wenig später eine ungute Wendung nahm, bis sie irgendwann das Gefühl hatte, der Sache ein Ende setzen zu müssen. Aber so sollte es nicht sein. Hier war gar nichts beendet.
Er sah jetzt alles ganz deutlich vor sich, das gigantische Spiel, bei dem sich alles um sie drehte, damals wie heute. Die lebhafte Karianne, mit ihrer Sanftheit und Verletzlichkeit, die ihn die ganze Zeit faszinierte. Es hatte Monate gedauert, bis sie ihm von ihrer Krankheit erzählte, erst vorsichtig und reserviert, ohne dass er den ganzen Ernst der Lage erfassen konnte. Dann hatte sie sich ihm schrittweise geöffnet und erzählt, wie knapp sie dem Tod entgangen war und wie alles sich immer zum Besten für sie gewendet hatte, als würde ein Glücksstern über ihr wachen. Aber ihr Glücksstern war niemand anderes als der Briefeschreiber, den sie abgewiesen hatte.
Die Abfahrt zum Haus kam so plötzlich, dass er zunächst daran vorbeischlingerte. Er setzte zurück und sah, dass ihr Auto vor der Tür stand. Trotzdem trat er das Gaspedal durch und fuhr auf den Hof. Er sprang aus dem Auto,
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