Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
deine Briefe versteckt und immer wieder gelesen. Alle anderen wurden weggeworfen. Sie wusste nie, wer du bist, aber du warst trotzdem der Erste. Du hast ihr das Leben gerettet. Ich kann niemals die Art gutheißen, wie du das getan hast, aber gleichzeitig weiß ich, ich muss dir dafür danken, dass sie heute atmet und lebt. Und du kannst sie wieder retten. Aber sie braucht ärztliche Hilfe … und zwar so bald wie möglich. Vielleicht überlebt sie noch einen Tag, vielleicht zwei, aber nicht viel länger. Sie muss zur Dialyse.«
Wieder Schweigen.
»Ich bin mittlerweile an einem gewissen Punkt angelangt, Niklas. Damals habe ich einen Pakt mit ihr geschlossen, den zu erfüllen ich mir zur Lebensaufgabe gemacht habe. Aber wenn ich ins Gefängnis komme, bleibt der Pakt unvollendet. Du verstehst sicher, dass ich in eine ungute Lage geraten bin. Nichts wünsche ich mir mehr, als ihr wieder das Leben zu retten, aber ich will auch meine eigene Haut retten. Allmählich kommt es mir so vor, als würden sich diese zwei Wünsche nicht mehr vereinbaren lassen.«
»Was hast du davon, wenn sie in deinen Armen stirbt?«
»Genau dafür versuche ich gerade eine Lösung zu finden. Ich war die ganze Zeit in der komfortablen Situation, dass ich den anderen immer ein paar Nasenlängen voraus war und alles bis ins kleinste Detail planen konnte. Deine Entdeckung zwang mich zu spontanem Handeln, und das hat mich in eine knifflige Lage gebracht. Eine wirklich unerträgliche Wahl – Karianne oder ich.«
Niklas spürte, wie ihm ganz kalt wurde.
»Ich kann sie gehen lassen und ihr so das Leben noch einmal retten. Oder sie kann der Schutzschild sein, mit dessen Hilfe ich mich aus dieser etwas … prekären Situation befreie.«
»Nimm mich an Kariannes Stelle. Dann musst du diese Entscheidung nicht treffen.«
»Der Gedanke gefällt mir, aber ich befürchte, diese Lösung macht alles furchtbar kompliziert.«
»Im Gegenteil, damit lösen sich die Probleme. Du hast es doch selbst gesagt: Alles, was du getan hast, hast du für Karianne getan. Wenn wir tauschen, bleibt es so. Dann hast du wieder zu Kariannes Bestem gehandelt.«
»Dann stelle ich aber gewisse Bedingungen.«
Niklas fühlte, wie sich ein wenig Hoffnung in ihm regte. Sein Kollege ließ vielleicht doch mit sich reden.
»Wenn mir auch nur der geringste Verdacht kommt, dass du die Polizei eingeschaltet hast …«
»Das habe ich nicht.«
»… dann stirbt sie. Und vergiss nicht: Ich bin generell ein sehr misstrauischer Mensch, Niklas. Zweitens … Karianne ist krank und geschwächt, vielleicht mehr, als du in deinem Egoismus gemerkt hast. Du hast dich mit dieser Sache verrückt gemacht und dabei völlig übersehen, wie sehr deine Frau leidet. Wenn du mich fragst, hat sie etwas Besseres verdient.«
Niklas schluckte.
»Damit will ich sagen, dass Karianne nicht in der Lage sein wird, viel Widerstand zu leisten, wenn sie vor eine bestimmte Wahl gestellt wird.«
Sie schwiegen wieder.
»Hast du Handschellen im Auto?«
»Im Handschuhfach.«
»Das wäre eine Möglichkeit …«
»Was?«
»Du bewegst dich ab jetzt nur noch nach meinen Anweisungen, und sobald ich es dir sage, legst du dir die Handschellen an.«
»In Ordnung.«
»Und ich wiederhole. Ich bin generell ein misstrauischer Mensch – ja, manche würden vielleicht sogar behaupten, dass mein Misstrauen an Paranoia grenzt. Sollte ich also wittern, dass die Handschellen nicht so sitzen, wie sie sollen …«
»Sie werden sitzen.«
»Lass mich noch mal kurz drüber nachdenken, Niklas. Ruf mich in fünf Minuten wieder an.«
Fünfeinhalb Minuten später wählte er die Nummer noch einmal und bekam Angaben zum Treffpunkt.
42
Rino schob die Tür zu Zimmer 216 auf. Er blieb stehen und atmete einen trockenen, unbestimmten Duft ein. Dann betrat er den Raum. Lorents lag auf dem Rücken im Bett und starrte an die Decke. Sein Gesicht war schmal und knochig, und die Nase, die sich wie ein Bergrücken über das halbe Gesicht zog, fast schon missgestaltet. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und seine blutleeren Lippen waren von Runzeln umgeben.
Man hatte Rino erklärt, dass Lorents sich geistig schon aus dieser Welt verabschiedet hatte, doch er wollte dennoch den Menschen einmal sehen, der die Ursache dieses ganzen Hasses war, den sein Pflegesohn in Bodø verbreitete.
An der Wand stand ein Besucherstuhl, den sich Rino ans Bett holte. Lorents’ Gesicht war zu einer grimmigen Miene versteinert. Und so wirst du auch sterben,
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