Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
dachte Rino, versteinert in deiner Wut.
»Ich musste Sie einfach sehen.«
Der Mund bewegte sich, als wollte Lorents ihn öffnen, doch er blieb stumm.
»Um Ihnen zu erzählen, wie Sie Ihren Hass in die Welt gesät haben.«
Die Augen bewegten sich.
»Obwohl Sie hier liegen wie eine lebende Mumie, und das schon seit geraumer Zeit, sind Sie bis heute die Ursache hasserfüllter Taten. Es muss Sie doch freuen, das zu hören, oder? Dass die Saat, die Sie mit solcher Inbrunst ausgesät haben, heute noch Früchte trägt. Ich war in dem Keller, in den Sie Even eingesperrt haben, und ich habe auch den Eisenring an der Klippe gesehen. Wissen Sie, das musste ich einfach vor meinen eigenen Augen haben. Sonst hätte ich es gar nicht glauben können, dass ein Mensch zu so einem ausgeklügelten Sadismus fähig ist.«
Lorents’ Blick flackerte, als versuchte er mit den Augen einer aufgeregten Fliege zu folgen.
»Even war wenige Stunden nach seiner Geburt schon Vollwaise. Finden Sie nicht, er hätte etwas Besseres verdient? Wie haben Sie Ihren Hass auf ihn eigentlich gerechtfertigt? Und warum haben Sie ihn aufgenommen, wenn Sie nur hassen konnten?« Rino beugte sich zu ihm vor. »Ging es Ihnen etwa um Geld?«
Noch immer der flackernde Blick. Vielleicht spürte der Mann, dass er nicht allein im Zimmer war, obwohl die Worte ihn nicht erreichten.
»Sie sind das erbärmlichste Geschöpf, das ich je gesehen habe. Und glauben Sie mir, Sie sehen genauso erbärmlich aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe. Leben Sie noch recht lange, Sie Untier, leben Sie um Gottes willen noch recht lange. Und ich wünsche Ihnen, dass sich jede weitere Minute Ihrer Existenz wie ein ewiger Zahnarzttermin anfühlt.«
Die Augen des Mannes wurden glasig. Eine Träne rann ihm über die Wange und folgte den Furchen in der Haut, bis sie von den Bartstoppeln aufgefangen wurde. Wahrscheinlich nahmen es die Pfleger nicht so genau damit, vielleicht pflegten sie ihn auch nur mit Widerwillen, und vielleicht ließen sie auch den einen oder anderen Kommentar fallen. Menschen wie Lorents waren allen verhasst.
»Entschuldigung.« Es war nur ein nasales Grunzen, trotzdem fuhr Rino erschrocken zusammen. Plötzlich schämte er sich. Was hatte er für ein Recht, als Wildfremder in das Heim eines anderen Menschen zu spazieren und ihn mit seinen Beleidigungen zu überhäufen?
Ewige Qual.
Obwohl dieser leblose und apathische Mann in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Joakim war, schien er genauso im eigenen Körper gefangen zu sein wie der Junge. Joakim hatte Energie für zwei und Nervosität für drei, und sosehr er sich auch wünschte, den Normen seiner Umwelt zu entsprechen, würde er es doch nie schaffen. Es sei denn, er bekam Hilfe. Er würde gefangen bleiben, wie ein Schnellkochtopf, der ab und zu ein bisschen Dampf ablassen muss, um nicht zu explodieren.
Ewige Qual.
In diesem Moment fasste Rino einen Entschluss.
»Wer sind Sie?« Plötzlich war Lorents’ Blick gar nicht mehr entfernt und leer, und Rino begriff, dass sich der Mann seine Stummheit selbst auferlegt hatte.
43
Niklas fuhr an dem Strand vorbei, an dem man die verletzte Ellen Steen gefunden hatte, und weiter zur Rückseite der Halbinsel, die Bergland bildete. Er war mehr oder weniger allein auf der Straße, nur ein paar Mal meinte er, Autoscheinwerfer im Rückspiegel zu sehen. Er erreichte die Viehsperre, die man ihm beschrieben hatte, machte die Scheinwerfer aus und ließ das Auto langsam weiterrollen, bis er den unbefestigten Weg erreichte. Die Schmutzfänger streiften über den Asphalt, als er abbog, und er musste sich stark konzentrieren, während er in den tiefen Spurrillen weiterfuhr. Der Birkenwald umschloss den Weg von beiden Seiten, so dass Niklas über den Wipfeln gerade noch die Bergkette erkennen konnte, die ihn umgab. Obwohl er auf das Tor vorbereitet war, stand es plötzlich vor ihm, als sei es aus dem Boden gewachsen, und um ein Haar wäre er hineingedonnert. Es war mit einer lose über den Holzpfosten hängenden Schlaufe verschlossen. Er öffnete das Tor, fuhr hindurch und schloss es wieder hinter sich, wie man ihm aufgetragen hatte. Die Straße verlief in einer langgezogenen Kurve, und er folgte ihr, bis sie nicht mehr befahrbar war. Dort holte er das Handy hervor und sah, dass er schon wieder eine SMS bekommen hatte, in der er gefragt wurde, wo er sich befand und was los sei. Er hätte nicht mal eine Minute gebraucht, um die anderen zu alarmieren, und vielleicht war es
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